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Staat und Polizei: Instrumente der Herrschenden?

Die Frage nach der Rolle der Polizei hängt eng mit der Frage des Staates zusammen. Müssen wir heute noch davon ausgehen, dass Staat und Polizei lediglich die Interessen der Herrschenden vertreten? Ist die Rolle des Staates in allen kapitalistischen Klassengesellschaften dieselbe? Dieser Artikel plädiert für eine differenzierte Sichtweise und argumentiert, dass Staatlichkeit und Repression umkämpfte und somit beeinflussbare Felder politischer und sozialer Auseinandersetzung sind.

von David Ales (BFS Basel)

Polizeieinheiten in den USA, die wehrlose Mitbürger:innen ermorden, die Aufmärsche rechter und nationalistischer Kreise dulden, aber gewaltsam gegen linke Versammlungen vorgehen, die dank autoritärem Korpsgeist, einer starken Lobby und strukturellem Rassismus kaum zur Rechenschaft gezogen werden: Das schändliche und offensichtlich rassistisch motivierte Vorgehen US-amerikanischer Polizist:innen hat nicht nur die Black Lives Matter-Bewegung wieder auf die Strassen gebracht, sie hat auch innerhalb der radikalen Linken die Diskussion über Rolle und Funktion der Polizei entfacht.

Die marxistische Linke lehnt den bürgerlich-liberalen Standpunkt, wonach die Polizei als «Freund und Helfer» der Allgemeinheit verpflichtet sei und somit im öffentlichen Interesse die Einhaltung der Gesetze garantiere, zu Recht ab. Stattdessen geht sie davon aus, dass die Polizei dazu dient, die bürgerliche Klassenherrschaft aufrecht zu erhalten und Widerstand von unten zu unterdrücken.

Der US-Historiker Sam Mitrani argumentiert, dass die ersten Polizeieinheiten im 19. Jahrhundert in den USA gegründet wurden, um Sklav:innen- und Arbeiter:innenaufstände niederzuschlagen. Polizeieinheiten seien von den Wohlhabenden geschaffen und finanziert worden, um streikende Arbeiter:innen zusammenzuschlagen, Jagd auf entlaufene Sklav:innen zu machen oder um gegen Landstreicher:innen und Sexarbeiter:innen vorzugehen. Er resümiert:

«Wir sollten im Kopf behalten, dass der Ursprung einer Institution entscheidend ist – und die Polizei wurde von der herrschenden Klasse geschaffen, um die Arbeiter:innenklasse und die Armen zu kontrollieren, nicht, um ihnen zu helfen. Daran hat sich nichts geändert.»

Mit ähnlicher Stossrichtung argumentiert die marxistische Feministin Cinzia Arruzza, Philosophin am Eugen Lang College in New York, in ihrem Artikel «Polizist:innen sind keine Arbeiter:innen, sondern Agent:innen der Repression». Sie kommt zum Schluss, dass Polizist:innen aufgrund ihrer repressiven Funktion nicht als Teil der Arbeiter:innenklasse angesehen werden können. Da US-Polizeigewerkschaften zudem systematisch darum bemüht seien, fehlbare Polizist:innen rechenschaftsfrei davonkommen zu lassen, sei auch die derzeitige gewerkschaftliche Organisierung der Polizei aus linker Sicht völlig illegitim.

Es versteht sich von selbst, dass die Brutalität und die rassistisch motivierte Gewalt, die von US-Polizeieinheiten ausgehen, mit aller Kraft bekämpft werden müssen. Die Forderung der Black Lives Matter-Bewegung (BLM-Bewegung), die Polizei in ihrer jetzigen Form abzuschaffen («Defund the Police»), wurde in vielen Ländern von linken Bewegungen zurecht aufgegriffen.

Überall das gleiche?

Gerade weil die BLM-Bewegung in vielen Ländern so wichtige Impulse gesetzt hat und der Kampf gegen Polizeigewalt aktuell bleibt, ist es unerlässlich, linke Positionen kritisch zu hinterfragen und zu diskutieren. Ist es beispielsweise richtig, dass die Polizei in den USA nur den Herrschenden dient? Und lässt sich dieser Befund auch auf andere Länder übertragen?

Auch in Deutschland gibt es linke Stimmen, die einen Ausschluss der Gewerkschaft der Polizei (GdP) aus dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) fordern. Der Politikwissenschaftler Malte Meyer stellt fest, dass sich auch die GdP systematisch gegen Bemühungen wende, gegen diskriminierendes und rechtswidriges Verhalten seitens der Polizei vorzugehen:

«Weil sie von Korpsgeist, Kameraderie und dem unter Uniformträger:innen ohnehin verbreiteten Autoritarismus zehren, erweisen sich Polizeigewerkschaften tatsächlich nicht nur in den USA, sondern auch in anderen Ländern als besonders effektive Hindernisse bei der Durchsetzung demokratischer Polizeireformen.»

Auch die gefährliche Nähe vieler deutscher Polizist:innen zu rechtsextremem und rassistischem Gedankengut wird in Deutschland immer wieder thematisiert. Erst vor kurzem wurde bekannt, dass sich Polizeibeamt:innen sensible Adressen aus einer Polizeidatenbank verschafften und anschliessend Drohungen mit rechtsradikalem Inhalt an Einzelpersonen verschickten. Und schliesslich ist auch in der Schweiz hinreichend dokumentiert, dass vor allem People of Color, aber auch linke Aktivist:innen immer wieder demütigende Polizeikontrollen über sich ergehen lassen müssen. Auch das skandalöse Vorgehen der Schweizer Justiz gegen Teilnehmende der Basel Nazifrei-Demonstration seit November 2018 zeugt davon, dass der Justiz- und Polizeiapparat legitimen Widerstand kriminalisiert und rechtsstaatliche Prinzipien missachtet.

Rassistische und rechtswidrige Polizeigewalt kommt also in vielen Ländern vor. Auch wenn die Polizei alles andere als neutral ist und sich vielerorts gegen ethnische Minderheiten, gegen Linke und gegen emanzipatorische Bewegungen aller Art richtet, halte ich es dennoch für stark verkürzt, den Polizeiapparat als simples Instrument der Herrschenden zu bezeichnen. Dies aus folgenden drei Gründen:

1. Rassismus und diskriminierendes Verhalten sind gesamtgesellschaftliche Phänomene

Rassistisches, sexistisches und allgemein diskriminierendes Verhalten ist ein alltägliches Phänomen und kommt nicht nur bei Polizist:innen, sondern bei Menschen aus allen Klassen, Schichten und Milieus der Gesellschaft vor. Sich auf die repressiven Apparate (oder auf rechtsextreme Gruppierungen) einzuschiessen, birgt die Gefahr, die Tragweite und breite Verankerung diskriminierender Ideologien und Mechanismen innerhalb unserer Gesellschaften zu übersehen. Sicherlich ist rassistische Polizeigewalt sichtbarer und besonders verstörend, doch das Unrecht, das von Unternehmen, Behörden, Politiker:innen, Lehrer:innen oder Sozialarbeiter:innen ausgeht, ist auch ein Teil des Problems. Die sozialen Verhältnisse des Kapitalismus spiegeln sich in allen Bereichen unserer Gesellschaft wider und werden dementsprechend auch überall reproduziert.

Auch dass Polizeieinheiten in den USA im Vergleich zu Westeuropa in besonderem Masse militarisiert sind und rassistische Gewalt ausüben, ist nur im historischen Kontext der USA begreifbar. Sklaverei, Apartheit und Rassismus sind tief in der DNA des amerikanischen Kapitalismus verankert. Das bis heute rassistische Verhalten der Polizei ist ein Produkt dieser Geschichte. Das bedeutet aber nicht, dass der Polizeiapparat der Hauptverursacher des Rassismus ist.

2. Klassenzugehörigkeit definiert sich nicht über politisches Bewusstsein

Polizeiangestellte verkaufen ihre Arbeitskraft nicht mehr und nicht weniger, als dies andere Angestellte – Feuerwehrangestellte, Pfleger:innen, Lehrer:innen – tun. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass sich in der Polizei besonders viele Menschen mit rechtem Gedankengut finden, ändert dies nichts daran, dass Polizist:innen lohnabhängig sind. Arbeiter:innen in Waffenfabriken schaden der Gesellschaft ebenfalls und sind Teil eines Systems, das weltweit Elend und Tod mitverursacht. Sollen wir ihnen deswegen ihre Lohnabhängigkeit absprechen? Es ist eine traurige Realität des heutigen Kapitalismus, dass Millionen Menschen abhängig beschäftigt sind und zugleich einer Tätigkeit nachgehen, die der Gesellschaft schadet: Wissenschaftler:innen entwickeln gentechnisch verändertes Saatgut, Jurist:innen lassen dieses zugunsten von Agrarmultis patentieren, Justizangestellte schützen ebendiese Konzerne gegenüber der Gesellschaft. Der Kampf gegen die kleinbäuerliche Subsistenzwirtschaft durch Monsanto, Syngenta und Co. basiert auch auf der Kooperation der Lohnabhängigen ebendieser Betriebe.

Die Liste von Arbeiter:innen, die der Gesellschaft mehr schaden als nützen, liesse sich beliebig lange fortsetzen. Dennoch sollten wir aus einer marxistischen Perspektive daran festhalten, dass Lohnabhängige – egal ob links oder rechts, progressiv oder reaktionär – Menschen sind, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um zu überleben. Dazu gehören auch Polizist:innen. Insofern haben sie im Prinzip auch ein Recht auf gewerkschaftliche Organisierung und auf gute Arbeitsbedingungen. Dass Pseudogewerkschaften, denen es de facto nur um Straffreiheit fehlbarer Beamt:innen geht und die damit Gewalt und Unrecht gegenüber Dritten legitimieren, bekämpft werden müssen, versteht sich von selbst.

3. Die Polizei schützt nicht nur die Herrschenden, sondern die bestehenden Verhältnisse insgesamt

Eigentlich gehört es zu den Grundüberzeugungen linker Gesellschaftsanalyse, dass die Geschichte nicht nur «von oben», also von der Wirtschafts- und Politikelite, sondern eben auch «von unten», durch individuelle Verhaltensweisen, soziale Bewegungen aller Art und durch Klassenkämpfe gemacht wird. Vor allem in westeuropäischen Ländern haben Lohnabhängige wichtige politische und soziale Rechte erkämpft: Soziale Sicherungssysteme, ein zumindest teilweise öffentlich zugängliches Gesundheitswesen, politische Partizipationsmöglichkeiten und individuelle Rechte. Auch wenn wir aus linker Sicht all diese Bereiche nach wie vor radikal kritisieren und weiter- oder umbauen wollen, dürfen wir nicht den Fehler begehen, die gesellschaftliche Bedeutung ebendieser Errungenschaften und Institutionen zu übersehen. Die heutigen Nationalstaaten sind eben keine reinen Instrumente der Bourgeoisie, sondern auch Produkte sozialer Auseinandersetzungen und Klassenkämpfe vergangener Jahrhunderte. Wenn wir als Linke die AHV verteidigen oder einen Ausbau von Kinderbetreuungsplätzen fordern, dann kämpfen wir darum, den Staat in unserem Sinne mitzugestalten und somit auch unsere Interessen darin berücksichtigt zu sehen.

Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft ist leider nach wie vor in der Lage, eine Mehrheit der Lohnabhängigen von ihrer Notwendigkeit zu überzeugen. Auch mangels gesellschaftlicher Alternativen bekennt sich eine Mehrheit der Lohnabhängigen in Ländern wie Frankreich, Deutschland oder der Schweiz zum bürgerlichen Staat und letztlich auch zu seinen repressiven Organen. In diesem Kontext hilft es wenig, wenn wir als Linke so tun, als würde die reaktionäre Polizei der progressiven Klasse der Lohnabhängigen als feindliche Macht gegenüberstehen. Die politische Stabilität vieler westeuropäischer Staaten ist eben nicht nur das Ergebnis brutaler Klassenherrschaft durch Armee und Polizei, sondern basiert auch auf einer breiten Zustimmung durch die Klasse der Lohnabhängigen gegenüber dem Status quo. In der Schweiz finden sich Hundertausende Menschen, die Abschiebungen von illegalisierten Menschen, «Law and Order», mehr Überwachung und eine Kriminalisierung linker Aktivist:innen fordern und/oder stillschweigend hinnehmen. In den USA finden sich Millionen Menschen, die die Politik Trumps und die Militarisierung der Polizei gutheissen und rassistische Denk- und Handlungsweisen verinnerlicht haben. Insofern kämpfen wir als Linke nicht einfach gegen die Polizei oder die staatliche Ordnung, sondern gegen ein gesamtgesellschaftliches System und die damit einhergehende herrschende Ideologie. Wie eine kapitalistische Gesellschaft aussieht, in welcher die Zustimmung durch einen Grossteil der Bevölkerung verloren gegangen ist und in welcher Herrschaft nur noch durch militärisch-polizeiliche Mittel aufrecht erhalten wird, zeigt sich übrigens in Ländern wie Syrien. Dort ergibt die Aussage, dass der Sicherheitsapparat nur in den Diensten der Herrschenden steht, wesentlich mehr Sinn.

Strategische Überlegungen

Um Missverständnissen vorzubeugen: Wenn soziale Bewegungen in den USA fordern, die Polizei zurückzubauen oder gar abzuschaffen, sollten wir diese Forderung ausdrücklich unterstützen. Die bisher gemachten Argumente haben nicht die Absicht, die Polizei zu verharmlosen oder zu verteidigen. Sie sollen aufzuzeigen, inwiefern der repressive Staatsapparat als Teil gesamtgesellschaftlicher Kräfteverhältnisse analysiert werden muss.

Gerade weil der Polizeiapparat als Garant des staatlichen Gewaltmonopoles und der damit einhergehenden Sonderrechte, namentlich der Gewaltanwendung gegenüber Dritten, eine ganz spezifische Stellung in der Gesellschaft innehat, ist es aus linker Sicht zentral, für eine radikal-demokratische Kontrolle über den Sicherheitsapparat zu kämpfen und sich der Gefahr bewusst zu sein, die von der Polizei ausgeht. Als Linke sollten wir grundsätzlich fordern, dass Gesetze und Verfahren demokratisch legitimiert sind und rechtsstaatliche Grundsätze eingehalten werden. Menschen, die mit der Sicherstellung der Wahrung ebendieser Gesetze beauftragt werden, müssen demokratisch gewählt werden, rechenschaftspflichtig sein und jederzeit wieder abwählbar sein. Auch Forderungen nach einer umfassenden Entmilitarisierung und Entwaffnung der Sicherheitskräfte sind zentral.

In diesem Sinne müssen wir Geschichte als offenen Prozess begreifen, in dem das Verhalten von Polizei- (und Militärangehörigen) nicht auf alle Ewigkeit vorbestimmt ist, sondern von gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzungen abhängt. Historische Beispiele, in denen Mitglieder des Sicherheitsapparates in entscheidenden Momenten «die Seiten gewechselt haben» oder sich teilweise mit progressiven Bewegungen solidarisiert haben, gibt es. In Portugal waren es mitunter fortschrittliche Teile der Armee, die 1974 gegen die autoritäre Diktatur Salazars putschten und mithilfe der sich mobilisierenden Bevölkerung den Übergang zu einer parlamentarischen Demokratie ermöglichten. Selbst die Oktoberrevolution in Russland wäre womöglich erfolglos geblieben, wenn sich angesichts der revolutionären Massenbewegung nicht viele Armeeeinheiten irgendwann geweigert hätten, mit Waffengewalt gegen Revolutionär:innen vorzugehen. Im Zeitalter des Hightech-Kapitalismus, in dem es dank moderner Technik immer einfacher ist, mit wenig Personal grosse Menschenmengen zu überwachen und allenfalls zu bekämpfen, ist es strategisch gefährlich, alle Polizist:innen (und Soldat:innen) im Voraus als Klassenfeinde und willige Handlanger:innen des Staates abzustempeln. Eine derartige Haltung erschwert es Individuen, Stellung zu beziehen. Wenn revolutionäre Bewegungen entstehen und sich Klassenkämpfe zuspitzen, ist es die Aufgabe der revolutionären Linken, mit einem gemeinsamen Programm möglichst breite Teile der Bevölkerung für sich zu gewinnen und ihnen eine neue Perspektive aufzuzeigen. Wenn es gelingt, einen Teil des Sicherheitsapparates entweder zu überzeugen oder wenigstens davon abzuhalten, Befehle blind zu befolgen, kann dies entscheidend sein. Vorgefestigte Schemata über das (künftige) Verhalten bestimmter Akteur:innen hingegen müssen wir vermeiden.

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