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Schweizer Asylwesen: Willkür und Isolation

Im Juni 2016 wurde die Asylgesetzrevision mit 67% angenommen. Im Vorfeld der Abstimmung warb man mit kürzeren Wartezeiten für Asylsuchende und einer kostenlosen Rechtsvertretung für die Neustrukturierung. Die BFS setzte sich damals erfolglos für ein linkes Nein ein. Ein Bericht zu der Umsetzung der Neustrukturierung zeigt nun, dass sich die Befürchtungen, die damals zur Bekämpfung dieser Vorlage geführt hatten, bewahrheitet haben.

von Lisa Brugger (BFS Basel)

Seit dem 1. März 2019 ist eine Asylgesetzrevision in Kraft, welche den Asylbereich massgeblich umstrukturiert hat. Zentrales Anliegen der Revision, die unter der damaligen Justizministerin Simonetta Sommaruga ausgearbeitet wurde, ist einerseits die Beschleunigung der Asylverfahren und andererseits der lückenlose Rechtsschutz der asylsuchenden Personen während des gesamten Asylverfahrens. Die Prozesse und Strukturen im Asylbereich wurden im Rahmen dieser Revision stark verändert, so bilden neu die “beschleunigten Verfahren” in Bundesasylzentren, welche in der Zuständigkeit des Bundes liegen, den normalen Verfahrensweg. Ziel ist es, möglichst viele Gesuche beschleunigt, d.h. innert einer Frist von 140 Tagen zu behandeln. Nur in Ausnahmefällen werden Geflüchtete in die Zuständigkeit der Kantone entlassen, wenn das Gesuch im Rahmen eines erweiterten Verfahrens geprüft wird.

Anders als vor der Revision, als nur wenige Geflüchtete eine Rechtsvertretung im Verfahren hatten, erhält durch die Neustrukturierung seit März 2019 jede:r Asylsuchende von Beginn weg eine kostenlose Rechtsvertretung zugeteilt. Deren Aufgabe ist es, die Interessen der geflüchteten Person zu vertreten. Das Mandat für die Beratung und Rechtsvertretung von Asylsuchenden wurde je nach Region u.a. an die Nichtregierungsorganisationen HEKS, Caritas und das Schweizerische Arbeiterhilfswerk (SAH) übertragen. Für das erweiterte Verfahren wurden die Mandate ausserdem an zahlreiche regionale Beratungsstellen vergeben. Damit hat die Neustrukturierung dazu geführt, dass ein beträchtlicher Teil der im Migrationsbereich tätigen Anlaufstellen in die staatlichen Verfahrensprozesse integriert wurden und heute eng mit dem Staatssekretariat für Migration (SEM) und den Migrationsämtern zusammenarbeiten.

Die Befürchtungen von links haben sich bestätigt

Diese Entwicklung beobachten die übriggebliebenen unabhängigen Rechtsberatungsstellen im Asylbereich schon länger. Um ihre Beobachtungen systematisch zu erfassen und auszuwerten, haben sie ein Bündnis unabhängiger Rechtsberatungsstellen aus der ganzen Schweiz gegründet. Dieses Bündnis hat anfangs Oktober eine kritische Bilanz zu den Auswirkungen der Neustrukturierung veröffentlicht. Vom 1. März 2019 bis 29. Februar 2020 wurde während eines Jahres eine qualitative und quantitative Untersuchung durchgeführt. Anhand der Anfang Oktober publizierten Ergebnisse lässt sich nun eine fundierte, linke Kritik am neustrukturierten Asylverfahren formulieren. Im Folgenden werden die wichtigsten Erkenntnisse kurz zusammengefasst:

1. Die periphere geographische Lage einiger Bundesasylzentren verunmöglicht die Verwirklichung eines menschenwürdigen Alltags und eines wirksamen Rechtsschutzes. Insbesondere in der Romandie wird den Geflüchteten durch die äusserst periphere Lage der Bundesasylzentren der Kontakt zur Aussenwelt praktisch verwehrt, was zu einer sozialen Ausgrenzung führt. Für Aktivist*innen ist der Zugang zu den Bundesasylzentren stark eingeschränkt, was eine Begegnung und Solidarisierung mit Geflüchteten erschwert. Verstärkt wird dieses Problem durch die prekäre finanzielle Lage der Betroffenen. Die abgelegenen Standorte machen es ausserdem nahezu unmöglich, bei Mandatsniederlegung der Rechtsvertretung rechtzeitig eine externe Vertretung zu finden. Damit wird das Recht auf eine wirksame Beschwerde ausgehöhlt.

2. Die Qualität der Asylentscheide des SEM ist mangelhaft. Dies wird anhand der hohen Erfolgsquote im Beschwerdeverfahren deutlich. Insgesamt waren 21.1% aller Beschwerden vor dem Bundesverwaltungsgericht erfolgreich. Dies ist im Vergleich zum langjährigen Mittel (11.4%) enorm hoch. Die hohe Erfolgsquote der Beschwerden zeigt die mangelnde Qualität der vom SEM gefällten Asylentscheide. Die Beschleunigung der Verfahren wird von massiven Qualitätseinbussen bei den Entscheiden begleitet, welche sich für die Geflüchteten grösstenteils negativ auswirken, z.B. durch Verfahrensfehler oder ungenügend abgeklärte Sachverhalte.

3. Die räumliche Nähe zwischen SEM und Rechtsschutz führt oftmals dazu, dass die asylsuchenden Personen die Trennung gar nicht wahrnehmen. Das Verständnis der eigenen Unabhängigkeit des Rechtsschutzes bleibt anzuzweifeln. Die Tatsache, dass alle am Verfahrensprozess beteiligten Parteien in den Bundesasylzentren unter einem Dach arbeiten, führt dazu, dass die Geflüchteten die Funktion der Rechtsvertretung nicht verstehen oder deren Unabhängigkeit infrage stellen. Neben den räumlichen und finanziellen Verstrickungen zwischen Rechtsschutz und SEM hat jüngst auch das Verhalten des Rechtsschutzes für Zweifel an dessen Unabhängigkeit geführt. Als in der Öffentlichkeit viel über eine Sistierung der Asylverfahren während der Corona-Pandemie diskutiert wurde, blieb ausgerechnet der Rechtsschutz stumm – und verwies bei Anfragen sogar an das Staatssekretariat für Migration. Dass ein Rechtsschutz, der die Interessen von Geflüchteten vertreten sollte, in einer solchen Situation keine öffentliche Positionierung vornimmt, ist sehr besorgniserregend und sagt viel über dessen Selbstverständnis aus.

4. Die Mandatsniederlegung durch den Rechtsschutz erfolgt häufig und oft zu Unrecht. Jede asylsuchende Person erhält zwar eine kostenlose Rechtsvertretung im Asylverfahren zugeteilt, diese Rechtsvertretung kann aber ihr Mandat auch niederlegen, wenn sie den Fall als juristisch aussichtslos einschätzt. Dies geschieht, wie die Untersuchung unabhängiger Rechtsberatungsstellen zeigt, leider viel zu oft und häufig zu Unrecht. Dies zeigt sich in den im langjährigen Vergleich tiefen Beschwerdequoten (prozentualer Anteil der Asylentscheide, gegen die eine Beschwerde vor Bundesverwaltungsgericht eingereicht wurde) in den Bundesasylzentren. Die Beschwerdequote in den Bundesasylzentren ist etwa halb so hoch wie im Regelbetrieb vor Inkrafttreten der Neustrukturierung. Von den Beschwerdefällen im externen Vertretungsverhältnis (also in den Fällen, in denen der Rechtsschutz das Mandat niedergelegt hat und eine unabhängige Stelle eine Beschwerde eingereicht hat) wurden mehr als die Hälfte der Fälle vom Gericht als ‚nicht aussichtslos‘ erachtet und eingehend geprüft. In all diesen Fällen erfolgte die Mandatsniederlegung des Rechtsschutzes demnach unrechtmässig. Es ist zu vermuten, dass die Mandatsniederlegungen häufig nicht aus inhaltlichen Gründen, sondern aus Zeitgründen erfolgen. Rund ein Drittel der gutgeheissenen Beschwerden vor Bundesverwaltungsgericht stammen nicht vom offiziellen Rechtsschutz, sondern von einer unabhängigen Beschwerdestelle, die die Rechtsberatung übernahm, nachdem der offizielle Rechtsschutz das Mandat niedergelegt hatte. Fazit: Insgesamt hat die Neustrukturierung trotz (oder gerade wegen) des institutionalisierten Rechtsschutzes zu einer Reduktion der Beschwerdetätigkeit und nicht wie angekündigt zu einem lückenloseren Rechtsschutz geführt.

5. Ob der mandatierte Rechtsschutz eine Beschwerde vor dem Bundesverwaltungsgericht erhebt, variiert regional äusserst stark. Die Aussicht einer asylsuchenden Person auf eine Beschwerde ist in der Romandie fast viermal höher als in der Ostschweiz. Die regional stark schwankende Beschwerdequote wirft Fragen auf, denn der Rechtsschutz agiert theoretisch auf Bundesebene.

Forderungen für eine Verbesserung des Asylverfahrens

Insgesamt unterstreicht der Bericht des Bündnisses unabhängiger Rechtsarbeit im Asylbereich, dass die Befürchtungen bezüglich der Neustrukturierung, welche linke Kritiker*innen schon früh geäussert hatten, nicht unbegründet waren. Es zeigt sich in der Praxis sehr deutlich, dass die Neustrukturierung vor allem institutionelle Ziele erfüllen soll, wie die schnellere und kostengünstigere Abwicklung von Asylverfahren. Dabei wird kaum auf die Bedürfnisse der Geflüchteten Rücksicht genommen. Die Schaffung von Bundesasylzentren entlasten in erster Linie die Kantone, die nur noch einen kleinen Teil der Asylgesuche im erweiterten Verfahren durchführen müssen und die Beschleunigung der Verfahren führt zu effizienten und kostensparenden Abläufen. Der Rechtsschutz hat ausserdem zu einer engeren Zusammenarbeit der Rechtsvertretungen mit den Migrationsbehörden und sogar zu einer Reduktion der Beschwerdetätigkeiten geführt.

Aus Sicht der Geflüchteten bedeutet die Neustrukturierung hingegen soziale Isolation, Anhörungen unter Zeitdruck, qualitativ mangelhafte Asylentscheide und eine kostenlose Rechtsvertretung, deren Unabhängigkeit zweifelhaft ist. Die Haupterkenntnis der Untersuchung lautet, dass das Verfahrenstempo seit der Neustrukturierung zu hoch ist, um ein faires Verfahren und das Recht auf eine wirksame Beschwerde zu gewährleisten. Daraus abgeleitet stellt das Bündnis zahlreiche wichtige Forderungen, welche das Asylverfahren für die Geflüchteten verbessern könnten. Dazu gehören u.a. die Forderungen nach einer Verlängerung sämtlicher Fristen, nach einem Rechtsschutz, der die Interessen der Geflüchteten an oberste Stelle setzt, eine räumliche Trennung zwischen der Rechtsvertretung und dem SEM sowie der unbedingte Zugang zu medizinischer Versorgung in den Bundesasylzentren. (Alle Forderungen lesen).


Das Andere Davos versteht sich als Teil einer solidarischen europäischen Kampagne zur radikalen Eindämmung der Pandemie.

Isolierung von Geflüchteten

Die Neustrukturierung hat dazu beigetragen, den Asylbereich aus dem Fokus der Öffentlichkeit und der Politik zu nehmen und die Verfahren hinter verschlossenen Türen in schnellen, aber qualitativ schlechteren Prozessen abzuwickeln. Diese Entthematisierung der schweizerischen Migrationspolitik zeigt sich heute in immer schwächer werdenden sozialen Bewegungen im Migrationsbereich, welche zunehmend mit staatlicher Repression konfrontiert werden. Beispielhaft war dies Ende September in Bern zu sehen, als eine Demonstration des Migration Solidarity Network mit Gummischrot und Wasserwerfern angegriffen wurde, während wenige hundert Meter entfernt die Klimabewegung ungehindert den Bundesplatz besetzte. Die Isolierung von Geflüchteten nimmt erschreckende Ausmasse an: Begegnungen zwischen Geflüchteten und Aktivist*innen, die sich zu einer Organisierung und zu einer sozialen Bewegung entwickeln könnten, sind unter diesen Umständen immer schwieriger. Während parteipolitisch von der «Linken» wenig zu erwarten ist, zumal die Neustrukturierung ein Projekt der SP-Bundesrätin Sommaruga war, liegt es an der radikalen Linken, die Folgen des neuen Migrationsregimes kritisch zu reflektieren und sich in der politischen Praxis solidarisch in bestehende Bewegungen einzubringen bzw. die Entstehung solcher zu unterstützen.

Das Bündnis unabhängiger Rechtsberatungsstellen im Asylbereich hat sich im Zuge der Neustrukturierung des Asylbereichs, welche seit März 2019 umgesetzt wird, gebildet. Ziel des Bündnisses ist es, die Auswirkungen der Neustrukturierung auf die Geflüchteten zu analysieren und die neue Praxis aus dieser Perspektive zu kritisieren. Dem Bündnis gehören Beratungsstellen aus der ganzen Schweiz an, u.a. die Freiplatzaktion Zürich, die Freiplatzaktion Basel, das Centre social protestant (CSP) aus Genf, das Solidaritätsnetz Bern und die Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht (SBAA).
Der vollständige Bericht findet sich hier.

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