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Arbeitskämpfe in der Schweiz

Welche Schritte und Initiativen können unternommen werden, um das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit im aktuellen politischen und sozialen Kontext zugunsten der Lohnabhängigen zu verändern? Konkrete Antworten auf diese Frage zu finden, ist seit jeher ein zentrales Anliegen unserer Organisation. Analysen der aktuellen Situation finden sich im Dossier «Aktuelles zu Arbeitsverhältnissen in der Schweiz» von IRES.

von Urs Zuppinger (MPS Romandie); aus antikap

Mit der fortschreitenden Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit zu Ungunsten der Lohnabhängigenklasse auf allen Ebenen der Auseinandersetzung wird es immer schwieriger, die richtige Strategie im Klassenkampf zu finden. In der Schweiz ist die kollektive Mobilisierung der Lohnabhängigen extrem schwierig, da sie seit Jahrzehnten durch den Arbeitsfrieden behindert wird. Um bei den Überlegungen zu diesen Fragen über Allgemeinplätze hinauszugehen, sind konkrete Kenntnisse über den Zustand und die Dynamik der Arbeitsbeziehungen in den Unternehmen, Wirtschaftszweigen oder Regionen, für die man sich interessiert, unerlässlich. Dieses Wissen ist in der Schweiz besonders schwer zu sammeln.

Dossier: «Aktuelles zu Arbeitsverhältnissen in der Schweiz»

Angesichts dieser Umstände ist das Dossier «Actualité des relations de travail en Suisse» («Aktuelles zu Arbeitsverhältnissen in der Schweiz») zu begrüssen, das in der internationalen Chronik Nr. 181 vom März 2023 von IRES, dem Wirtschafts- und Sozialforschungsinstitut der französischen Gewerkschaften, erschienen ist. Es berichtet auf wenigen Seiten über den aktuellen Stand der kollektiven Arbeitsbeziehungen in der Schweiz und enthält vier Beiträge. Es ist ein Dossier, das im Detail studiert werden sollte, da die darin enthaltenen Informationen und die begleitenden Überlegungen eine wertvolle Hilfe bei der Auseinandersetzung mit dem Thema bieten. Worum geht es in den vier Beiträgen?

Einleitung: Die Auswirkungen der zunehmend ungünstiger werdenden Arbeitsbeziehungen für Lohnabhängige in der Schweiz auf die Gewerkschaftsbewegung (von Aris Martinelli)

Der erste Beitrag skizziert den Kontext und dessen Entwicklung, indem er zunächst die Grundsätze darlegt, die die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit in der Schweiz auf den drei Ebenen regeln, in die sie sich gliedern.

  • die gesetzliche Ebene, die Gegenstand der politischen Debatte und der Lobbyarbeit ist,
  • die Ebene der Gesamtarbeitsverträge, deren Anerkennung durch die Parteien in diesem Land von der Verpflichtung zur Einhaltung des Arbeitsfriedens abhängig ist,
  • die Ebene der Unternehmen, auf der die Unternehmer:innen mit den Lohnabhängigen (die durch Personalausschüsse mit unterschiedlichem Status vertreten sind, der mit den Gewerkschaften ausgehandelt wird oder nicht), über die Anwendung des Arbeitsrechts und der Gesamtarbeitsverträge (GAV) verhandeln.

Der Autor ist der Ansicht, dass dieses System nach dem Zweiten Weltkrieg mehrere Jahrzehnte lang relativ gut funktioniert hat: allerdings im Interesse der Unternehmer:innen, während den Lohnabhängigen nur Brosamen blieben. Er stellt dann fest, dass die Unternehmer:innen die Rezession der 1990er Jahre nutzten, um über die bestehenden institutionellen Kanäle neoliberale Reformen durchzusetzen, die zu einer erheblichen Schwächung der Gewerkschaften führten: sowohl in Bezug auf die Mitgliederzahl als auch die Präsenz in den Betrieben.

Die Gewerkschaftsführungen passten sich der Situation an, indem sie sich von der betrieblichen Ebene abwandten und stattdessen in den Medien auftraten, die politische Debatte anregten und ihre Schwäche durch die Lancierung von Volksinitiativen und Referenden verschleierten. Ihre Anerkennung in den Medien hat zugenommen, aber die gewerkschaftliche Präsenz in den Betrieben ist ausserhalb des öffentlichen und halböffentlichen Dienstes praktisch verschwunden. Kollektive Konflikte an den Arbeitsplätzen sind nicht verschwunden, aber sie waren selten und nahmen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Form von punktuellen, manchmal spektakulären Streiks wie 2008 bei den Officine (SBB-Werkstätten in Bellinzona) oder von zeitlich begrenzten sektoralen Kampfbewegungen an. Darüber hinaus hatten diese Kämpfe keine Auswirkungen auf die Gewerkschaftsdynamik insgesamt, die weiterhin durch die Beteiligung an der Verwaltung von Gesamtarbeitsverträgen unter strikter Einhaltung des Arbeitsfriedens bedingt bleibt. Diese Tätigkeit sichert den Gewerkschaftsapparaten das Überleben. Aber die Mehrheit der heutigen Lohnabhängigen hat aufgehört, sich mit den Gewerkschaften als Mittel zur kollektiven Verteidigung ihrer Interessen zu identifizieren.

Die Herausforderungen der Arbeitszeitflexibi-lisierung in der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (von Aris Martinelli)

Der zweite Beitrag befasst sich mit der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie, die für die Schweizer Wirtschaft eine zentrale Rolle spielt. Er beschreibt detailliert, wie es den Unternehmer:innen dieser Branche in der Schweiz in den letzten 35 Jahren gelungen ist, die Wochenarbeitszeitregelung durch die Jahresarbeitszeitregelung zu ersetzen und gleichzeitig einen immer grösseren Teil der Produktion ins Ausland zu verlagern. Er zeigt auf, dass die Unternehmer:innen ihre Offensive bei jedem Konjunkturabschwung vorangetrieben und dafür gesorgt haben, dass jede Veränderung in Form von entsprechenden Änderungen des in der Branche geltenden Gesamtarbeitsvertrags festgeschrieben wurde. Jeder Angriff der Unternehmer:innen wurde so zu einer Verhandlung zwischen den Sozialpartnern.

Die Verpflichtung, den absoluten Arbeitsfrieden einzuhalten, nahm den Lohnabhängigen jede Möglichkeit, ihre kollektive Stärke zu nutzen, um den Strategien der Unternehmer:innen zur Profitmaximierung entgegenzuwirken. Die Niederlagen, die den Lohnabhängigen in diesem Sektor zugefügt wurden, ermöglichten es den Schweizer Unternehmer:innen, parallel dazu ähnliche Veränderungen in anderen Wirtschaftssektoren vorzunehmen. Der Wert dieses Beitrags liegt in der Genauigkeit der gelieferten Informationen. Es liegt an den Aktivist:innen und kämpferischen Lohnabhängigen, die strategischen Lehren daraus zu ziehen!

Verzicht auf Arbeitszeiterfassung: Welche Massnahmen zum Schutz der Gesundheit? (von Nicola Cianferoni)

Der dritte Beitrag ist einer Neuerung gewidmet, die auf den ersten Blick nebensächlich erscheinen mag: Die Pflicht zur Kontrolle der Arbeitszeit wurde in der Schweiz 2016 für Lohnabhängige gelockert, die ein Jahresgehalt von mehr als 120.000 Franken pro Jahr einschliesslich eventueller Prämien erhalten und über ein hohes Mass an Autonomie bei der Organisation ihrer Arbeit verfügen. Um gültig zu sein, muss diese Lockerung in einem Gesamtarbeitsvertrag verankert sein, der die Modalitäten der Umsetzung festlegt (darunter die Verpflichtung, die schriftliche Zustimmung der betroffenen Lohnabhängigen einzuholen, und die Verpflichtung, den Verbänden, die den Gesamtarbeitsvertrag unterzeichnet haben, die Unternehmensentscheidungen mitzuteilen).

Die Relevanz dieses Beitrags ist zunächst weniger offensichtlich als diejenige der anderen, da er sich auf Beschäftigte im oberen Segment bezieht. Er zeigt jedoch auf anschauliche Weise, dass GAV-Verhandlungen in der Schweiz für die Lohnabhängigen ein Kuhhandel sind: Denn die Forderung, die sich im Laufe der Verhandlungen durchsetzte, wurde von der Unternehmer:innenseite gestellt. Die Gewerkschaften erhielten im Gegenzug Garantien und Kontrollmassnahmen, auf die sie keinen Einfluss haben, da sie in den Bereich des Personalmanagements fallen. Dieses fällt nämlich in den Unternehmen unter das Monopol der Unternehmer:innen. Die Verankerung von Umsetzungsmodalitäten in einem GAV ist daher im Konfliktfall für die betroffenen Lohnabhängigen ohne praktischen Nutzen.

Die Kämpfe der prekär Beschäftigten in der Logistik: das «DPD-System» (von Nicola Pons-Vignon und Enrico Borell)

Der vierte Beitrag ist von anderer Art. Er wurde von Gewerkschaftern verfasst und befasst sich mit der Paketzustellung, einem Sektor, der unter dem Einfluss des Online-Handels schnell wächst. Zwischen 2020 und 2022 haben die Beschäftigten, die für die letzte Meile der Zustellung zuständig sind, es geschafft, einen kollektiven Kampf aufzunehmen, obwohl ihre Arbeitsbedingungen besonders hart sind. Der Verlauf und die Ergebnisse dieses Kampfes sind bezeichnend für die Probleme, mit denen diejenigen konfrontiert sind, die die Beschäftigten im aktuellen Kontext in der Schweiz zu mobilisieren versuchen. Bis Ende der 1990er Jahre war die Post ein öffentlicher Dienst. Die Zustellung von Paketen wurde von Briefträger:innen übernommen, oder anders gesagt, von angesehenen Lohnabhängigen mit relativ guten Arbeitsbedingungen. Die Schweizerische Post ist heute aber eine öffentlich-rechtliche Aktiengesellschaft, die einer strengen Kostenkontrolle unterliegt. Diese Anforderung kann auf dem letzten Kilometer der Paketzustellung nicht eingehalten werden, da der Zeitaufwand in diesem Stadium von den Unwägbarkeiten des Strassenverkehrs abhängt, weshalb diese Leistung ausgelagert wurde…

Die 1200 «Zustellexpert:innen», die diese Leistung derzeit erbringen, werden von 70 Subunternehmen von Geopost (vormals DPDgroup) beschäftigt, einem Privatunternehmen, an das die Post die Leistung ausgelagert hat. Das Volumen ihrer Arbeit und das Tempo werden jedoch von Geopost verwaltet und diktiert. Geopost spielt die Subunternehmer gegeneinander aus, um immer kürzere Fristen zu erreichen. Geopost ist eine Holdinggesellschaft der französischen Gruppe La Poste, die sich zu 100 % im Besitz des französischen Staates befindet. Das eingeführte System ist offensichtlich darauf ausgelegt, die Beschäftigten dazu zu zwingen, die Unwägbarkeiten der Dienstleistung allein zu tragen. Die Löhne sind niedrig, die Arbeitszeiten unberechenbar, eine Arbeitsplatzsicherheit nicht vorhanden und die gewerkschaftliche Organisation äusserst schwierig.

Dennoch gelang es der Unia im Jahr 2020, 150 Beschäftigte zu organisieren und gemeinsam mit ihnen einen Forderungskatalog für einen Gesamtarbeitsvertrag zu verfassen. 300 Beschäftigte unterzeichneten den Vertrag, aber Geopost weigerte sich, Verhandlungen mit der Unia aufzunehmen. Ausserdem wurden die Beschäftigten, die den Kampf angeführt hatten, entlassen. Geopost gelang es dann, Verhandlungen mit Syndicom und Transfair auf der Grundlage eines selbst erstellten GAV-Entwurfs aufzunehmen und abzuschliessen, der heute in Kraft ist. Und Geopost ermutigt die Beschäftigten der 70 Subunternehmer, die für Geopost arbeiten, diesen Gewerkschaften beizutreten. Letztendlich haben die Beschäftigten einige Verbesserungen erreicht, aber die Gesamtbilanz bleibt bitter.

Diese Beiträge verdienen unsere Aufmerksamkeit

Erstens, weil Darstellungen der Realität der Arbeitsbeziehungen zwischen Unternehmer:innen und Lohnabhängigen, die nicht den Standpunkt der Unternehmer:innen widerspiegeln, in der Schweiz selten sind. Denn sie sind aus einem offensichtlichen Grund schwer zu erstellen: Nach 100 Jahren Arbeitsfrieden haben die Gewerkschaften bis auf wenige Ausnahmen jeglichen Einfluss auf die Organisation der Lohnabhängigen in den Unternehmen verloren. Sie haben daher Mühe, an die Informationen zu gelangen, die für das Verständnis der Realität und der konkreten Entwicklung der Ausbeutungsverhältnisse notwendig sind, denen ihre Mitglieder unterworfen sind. Diese Beziehungen vertiefen und verfeinern sich jedoch ständig im Rahmen der Entwicklung des Managements der sogenannten «Humanressourcen» durch die Unternehmer:innen.

Will man diese Entwicklung über das Verständnis des Einzelfalls hinaus erfassen, muss man sich folglich auf statistische Ansätze und rechtliche Analysen konzentrieren, die von Unternehmer:innenkreisen und den ihnen dienenden Wirtschaftswissenschaftler:innen nach Herzenslust betrieben werden, oder sich auf Felduntersuchungen stützen, deren Durchführung vom Wohlwollen der Unternehmer:innen abhängt, was den Interpretationsspielraum der Ergebnisse einschränkt. Die ersten drei Beiträge gehen diesen Weg, zeichnen sich aber durch einen Interpretationswinkel aus, der sich entschieden von der Unternehmer:innenperspektive unterscheidet. Sie leiden auch nicht unter der Verzerrung der von den Gewerkschaften gelieferten Analysen, die dazu neigen, die Schlussfolgerungen so zu drehen, dass ihr geringer Einfluss auf die Geschehnisse in den Unternehmen kaschiert wird. Der letzte Beitrag befasst sich mit einem kürzlich aufgetretenen kollektiven Arbeitskonflikt, der in jeder Hinsicht bezeichnend für die schwierigen Bedingungen ist, die den Klassenkampf in der Schweiz derzeit prägen.

Es ist wichtig, diesen Umstand anzuerkennen und zu versuchen, daraus Konsequenzen zu ziehen

Die Strassenmobilisierungen der Jugend, die ihre Verzweiflung über die Klimakrise zum Ausdruck bringen, die der Frauenbewegung und die von den Gewerkschaften initiierten Mobilisierungen, wie zuletzt die nationale Kaufkraftdemonstration des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes am 16. September in Bern, sind wichtig, da sie die Wut zum Ausdruck bringen, die sich in der arbeitenden Bevölkerung aufstaut. Die Unternehmer:innen und die Schweizer Bourgeoisie zeigen sich davon jedoch wenig beeindruckt, da man dort weiss, dass der Klassenkampf unter Kontrolle ist, solange der von den Unternehmer:innen kontrollierte Arbeitsfrieden in den Betrieben eingehalten wird. Diese Blockade veranlasst einen Teil der radikalisierten Kreise, einen Ausweg auf sanfteren Wegen zu suchen. In der Westschweiz hat sie einen Teil der Klimabewegung dazu veranlasst, «Agissons» zu gründen, eine militante Gruppe, die sich auf die Lancierung von Volksinitiativen konzentriert und damit einen Weg einschlägt, den die Gewerkschaftsbewegung seit Jahrzehnten beschreitet, um sich Gehör zu verschaffen, obwohl der Arbeitsfrieden es ihnen verbietet, die Lohnabhängigen an den Arbeitsplätzen zu mobilisieren – mit den bekannten mässigen Ergebnissen. Ich bin deshalb davon überzeugt, dass diese Optionen zu nichts führen.

Es ist etwas Ungewöhnliches, dass die BFS in der aktuellen Situation in der Schweiz existiert und dass wir in mehreren Kantonen über eine zwar kleine, aber unbestreitbare Interventionskapazität verfügen, mit einer gewissen Wirkung bei der Jugend in der Deutschschweiz und als kleine, anerkannte politische Kraft im Tessin. Das ist motivierend. Hingegen ist es meiner Meinung nach nicht zulässig, dass heute die Arbeitswelt kein zentraler Gegenstand der Interventionen der BFS ist. Die Offensive der Unternehmer:innen ist im Gange und ihre Verschärfung vorprogrammiert. Wir dürfen uns vor dieser Herausforderung nicht drücken! Unsere Organisation muss sich zentral mit der Frage auseinandersetzen, was zu tun ist, um dazu beizutragen, dass die Lohnabhängigen in diesem Land wieder die Fähigkeit erlangen, ihre Interessen am Arbeitsplatz zu verteidigen. Diese Aufgabe ist in der gegenwärtigen Situation zwar extrem schwierig, aber wir müssen sie angehen, denn niemand wird sie für uns erledigen, und ich bin überzeugt, dass wir heute über die Ressourcen verfügen, um in diesem Interventionsfeld Schritte nach vorne zu machen.

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