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Davos und die «schmelzende» Weltwirtschaft

Die Widersprüche und Konflikte häufen sich, die Wachstumsaussichten schwinden, internationale Kapitalmobilität und globalisierte Wertschöpfungsketten sind ausgereizt, neue Wachstumsfelder nicht in Sicht. Mit der zunehmenden Armut und Ungleichheit ruiniert das Kapital seine Absatz- und Profitmöglichkeiten und schafft zugleich Protest und Unzufriedenheit. Vom World Economic Forum (WEF) in Davos erhalten wir keine Antworten auf diese umfassende Krise. Daher auf zum Anderen Davos! (Red.)

von Michael Roberts; aus Michael Roberts blog

Das alljährliche Treffen der reichen Weltelite, das Weltwirtschaftsforum (WEF), findet wieder im Luxus-Skiort Davos in der Schweiz statt. Tausende werden daran teilnehmen, und viele der «Großen und Guten» aus Politik und Wirtschaft sind in ihren Privatjets mit großem Gefolge angereist. Zu den Redner:innen gehören der chinesische Ministerpräsident Li Qiang, die EU-Vorsitzende Ursula von de Leyen, der ukrainische Ministerpräsident Selenskyj und viele führende Wirtschaftsvertreter:innen.

Ziel des WEF ist es, die Herausforderungen zu erörtern, vor denen die Menschheit im Jahr 2024 und danach steht. Diese Herausforderungen werden jedoch in erster Linie aus der Sicht des globalen Kapitals gesehen, und alle vorgeschlagenen politischen Lösungen werden von dem Ziel geleitet, die kapitalistische Weltordnung zu erhalten.

Dies geht aus dem jährlichen Global Risks Report des WEF hervor, der eine Umfrage unter den Teilnehmer:innen von Davos durchführt. Der Bericht «untersucht einige der schwerwiegendsten Risiken, mit denen wir in den nächsten zehn Jahren konfrontiert sein könnten, vor dem Hintergrund eines raschen technologischen Wandels, wirtschaftlicher Unsicherheit, einer Erwärmung des Planeten und von Konflikten. Während die Zusammenarbeit unter Druck gerät, benötigen geschwächte Volkswirtschaften und Gesellschaften möglicherweise nur den kleinsten Schock, um den Kipppunkt der Widerstandsfähigkeit zu überschreiten».

Was die Weltwirtschaft betrifft, so ist der Bericht besorgt. Zu den zehn größten «Risiken» für die Befragten im Jahr 2024 gehören die Krise der Lebenshaltungskosten und die wirtschaftliche Stagnation. Im WEF-Bericht heißt es: «Obwohl im Moment eine “sanftere Landung” vorherrscht, bleiben die kurzfristigen Aussichten höchst unsicher. In den nächsten zwei Jahren droht ein anhaltender Preisdruck auf der Angebotsseite, der von den El-Niño-Bedingungen bis hin zur möglichen Eskalation von Konflikten reicht. Und wenn die Zinssätze länger relativ hoch bleiben, werden kleine und mittlere Unternehmen und hoch verschuldete Länder besonders stark von Verschuldungsproblemen betroffen sein.»

Im Bericht wird diese Situation als «ungewiss» bezeichnet, aber sicher ist, dass die so genannte weiche Landung, d. h. ein stetiges Wirtschaftswachstum ohne Einbrüche, auf die US-Wirtschaft beschränkt ist, nicht aber auf andere Länder, zumindest nicht auf die großen fortgeschrittenen kapitalistischen Volkswirtschaften.

Auch die Aussichten der US-Wirtschaft sind trotz der optimistischen Äußerungen vieler amerikanischer Quellen nicht gerade berauschend. «Eine Rezession im kommenden Jahr scheint weniger wahrscheinlich zu sein, als es Anfang 2023 den Anschein hatte, da die Zinssätze tendenziell niedriger sind, die Benzinpreise im Vergleich zum letzten Jahr gesunken sind und die Einkommen schneller wachsen als die Inflation», sagte Bill Adams, Chefökonom der Comerica Bank. Er räumte jedoch ein, dass Ökonomen im Durchschnitt «für die US-Wirtschaft ein Wachstum von nur 1 % im Jahr 2024 erwarten, was etwa der Hälfte der normalen langfristigen Wachstumsrate entspricht und eine deutliche Abschwächung gegenüber den geschätzten 2,6 % im Jahr 2023 bedeutet.» Also bestenfalls keine Rezession, aber praktisch Stagnation im Jahr 2024. «Es handelt sich weniger um eine Rezession als vielmehr um einen Wachstumsstopp», so Rajeev Dhawan, Wirtschaftswissenschaftler an der Georgia State University.

In den übrigen G7-Ländern sieht es schlechter aus. Die deutsche Wirtschaft schrumpfte 2023 um 0,3 % und könnte in diesem Jahr noch weiter einbrechen, wobei das verarbeitende Gewerbe in Deutschland mit einer Rate von 6-7 % gegenüber dem Vorjahr schrumpft. Sowohl die französische als auch die britische Wirtschaft sind im letzten Quartal 2023 ins Minus gerutscht. Das Gleiche gilt für Kanada und Japan, während Italien stagniert. Und mehrere andere fortgeschrittene kapitalistische Volkswirtschaften befinden sich bereits in der Rezession – die Niederlande, Schweden, Österreich und Norwegen. In den so genannten Schwellenländern hat sich der Aufschwung, der nach dem Ende des pandemischen Einbruchs von 2020 im Jahr 2022 einsetzte, in vielen Fällen erheblich verlangsamt.

Die Inflationsraten sind gegenüber ihren Höchstständen im Jahr 2022 zurückgegangen, da sich die Versorgungsengpässe und die schwache Industrie ein wenig erholten, nachdem die Pandemie das Angebot und den internationalen Handel eingeschränkt hatte. Die Lebensmittel- und Energiepreise sind 2023 stark gesunken. Doch der Schaden ist bereits angerichtet. Im Durchschnitt sind die Preise für die meisten Menschen in der fortgeschrittenen kapitalistischen Welt seit dem Ende der Pandemie um 20 % gestiegen (und sie steigen weiter). In vielen armen Ländern und in vielen Volkswirtschaften mit mittlerem Einkommen wie Argentinien (150 %) und der Türkei (50 %) ist es noch schlimmer. Infolgedessen sind die Realeinkommen der Durchschnittshaushalte seit 2019 gesunken, was den größten Rückgang des Lebensstandards seit Jahrzehnten bedeutet. Darüber hinaus könnte die Inflation wieder ansteigen, wenn die jüngsten Angriffe auf die Schifffahrt im Roten Meer und die Zerstörung des Gazastreifens und seiner 2 Mio. Einwohner durch Israel auf den energiereichen Nahen Osten übergreifen.

Die Weltbank bringt es in ihrem jüngsten Bericht auf den Punkt. Es gibt zwar keine Rezession in den USA, aber «die Weltwirtschaft ist auf dem besten Weg, das schlechteste halbe Jahrzehnt ihres Wachstums seit 30 Jahren zu erleben».

Als Grund für diesen Rückgang nennt die Weltbank die Verlangsamung der produktiven Investitionen der großen Volkswirtschaften in die Schaffung von Arbeitsplätze und Einkommen.

Marxist:innen würden hinzufügen, dass hinter diesem Investitionsrückgang das historisch niedrige Rentabilitätsniveau des globalen Kapitals steht (mit Ausnahme der winzigen Minderheit von Technologie- und Energieriesen).

Die Weltbank geht davon aus, dass das BIP-Wachstum der Weltwirtschaft im Jahr 2024 nur noch 2,4 % betragen wird – gegenüber 2,6 % im letzten Jahr (einschließlich Indien, China, Indonesien usw., die mit 5-6 % wachsen werden). Dies wäre das dritte Jahr in Folge, in dem das Wachstum schwächer ausfallen würde als in den vorangegangenen 12 Monaten. «Ohne eine umfassende Kurskorrektur werden die 2020er Jahre als ein Jahrzehnt der verpassten Chancen in die Geschichte eingehen», sagte Indermit Gill, Chefökonom und Senior Vice President der Weltbank.

Es wird erwartet, dass das Wachstum des Welthandels im Jahr 2024 nur die Hälfte des Durchschnitts des Jahrzehnts vor der Pandemie betragen wird. Der globale Warenhandel schrumpfte im Jahr 2023, was den ersten jährlichen Rückgang außerhalb globaler Rezessionen in den letzten 20 Jahren darstellt. Die Erholung des Welthandels in den Jahren 2021-24 wird den Prognosen zufolge die schwächste nach einer globalen Rezession in den letzten fünfzig Jahren sein.

Für die fortgeschrittenen Volkswirtschaften wird ein Wachstum von nur 1,2 Prozent erwartet, gegenüber 1,5 Prozent im Jahr 2023. Viele Entwicklungsländer werden nach wie vor durch einen «Schuldenüberhang von mehr als einer halben Billion Dollar» und einen schrumpfenden «fiskalischen Spielraum» (d. h. die Fähigkeit der Regierungen, Geld für soziale Bedürfnisse auszugeben) behindert. Die Ernährungsunsicherheit stieg 2022 sprunghaft an und blieb auch 2023 hoch.

Der WEF-Bericht weist auf die Gefahr für den Kapitalismus hin, die er als «gesellschaftliche Polarisierung» bezeichnet, d. h. eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, die durch wirtschaftliche Stagnation verursacht wird und zum Verlust der Unterstützung für die bestehenden Parteien des Kapitals und ihre politischen Institutionen führt.

Im Bericht wird das Ausmaß der sozialen Ungleichheit in der Welt im Jahr 2024 nicht erwähnt. Aber jedes Jahr stellt Oxfam in Davos seinen «alternativen» Bericht über den Zustand der weltweiten Ungleichheit vor. Er ist eine erschütternde Verurteilung des Versagens der kapitalistischen Ordnung bei der Erfüllung der sozialen Bedürfnisse der großen Mehrheit der Menschheit. In seinem diesjährigen Bericht mit dem Titel Survival of the Richest stellt Oxfam fest, dass extremer Reichtum und extreme Armut zum ersten Mal seit 25 Jahren gleichzeitig zugenommen haben. «Während die normalen Menschen täglich Opfer für lebensnotwendige Dinge wie Lebensmittel aufbringen, haben die Superreichen selbst ihre kühnsten Träume übertroffen. Nach nur zwei Jahren zeichnet sich ab, dass dieses Jahrzehnt das bisher beste für Milliardäre sein wird – ein Boom der wilden 20er Jahre für die Reichsten der Welt», so Gabriela Bucher, Geschäftsführerin von Oxfam International.

In den Jahren der Pandemie- und Lebenshaltungskostenkrise seit 2020 wurden 26 Billionen Dollar (63 Prozent) des gesamten neuen Reichtums von den reichsten 1 Prozent vereinnahmt, während 16 Billionen Dollar (37 Prozent) an den Rest der Welt insgesamt gingen. Ein Milliardär gewann etwa 1,7 Millionen Dollar für jeden Dollar des neuen globalen Reichtums, den eine Person in den unteren 90 Prozent verdiente.

Das Vermögen der Milliardäre ist um 2,7 Milliarden Dollar pro Tag gestiegen! Dies ist das Ergebnis eines Jahrzehnts historischer Zuwächse – die Zahl und das Vermögen der Milliardäre hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt.

Gleichzeitig leben heute mindestens 1,7 Milliarden Arbeitnehmer:innen in Ländern, in denen die Inflation die Löhne übersteigt, und mehr als 820 Millionen Menschen – etwa jeder zehnte Mensch auf der Erde – hungern. Frauen und Mädchen essen oft am wenigsten und zuletzt und machen fast 60 Prozent der hungernden Weltbevölkerung aus. Oxfam zitiert die Weltbank mit den Worten: «Wir erleben wahrscheinlich die größte Zunahme der weltweiten Ungleichheit und Armut seit dem Zweiten Weltkrieg.»

Ganze Länder stehen vor dem Bankrott, wobei die ärmsten Länder inzwischen viermal mehr für die Rückzahlung von Schulden an reiche Gläubiger ausgeben als für die Gesundheitsversorgung. Drei Viertel der Regierungen der Welt planen sparsame Ausgabenkürzungen im öffentlichen Sektor – auch im Gesundheits- und Bildungswesen – um 7,8 Billionen Dollar in den nächsten fünf Jahren.

Wie üblich bietet das WEF in seinem Bericht keine politischen Lösungen an, um dieses groteske Ausmaß an Ungleichheit umzukehren oder gar einzudämmen – nicht einmal eine Vermögenssteuer. Stattdessen ist das Top-Risiko-Thema für die vom WEF befragten Personen «extremes Wetter». Die wirtschaftlichen Folgen der globalen Erwärmung und des Klimawandels sind es, die den Unternehmens- und Regierungschefs in Davos Sorgen bereiten. Es geht um Schäden für Unternehmen und Infrastruktur – und darum, dass Millionen Menschen gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen und zu migrieren.

Wie der COP28-Klimagipfel gezeigt hat, gelingt es Unternehmen und Regierungen jedoch nicht, die Ziele zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen zu erreichen, die zur Vermeidung von extremen Temperaturen, Überschwemmungen und Dürren erforderlich sind. Wie der WEF-Bericht es ausdrückt: «Viele Volkswirtschaften werden auf “nicht-lineare” Auswirkungen weitgehend unvorbereitet bleiben: Kipppunkte im Klimasystem haben das Potenzial, die Erderhitzung durch eine Freisetzung von Emissionen zu beschleunigen und die damit verbundenen Auswirkungen zu verstärken, wodurch anfällige Bevölkerungsgruppen bedroht werden. Die kollektive Anpassungsfähigkeit der Gesellschaften könnte angesichts des schieren Ausmaßes der potenziellen Auswirkungen und des Bedarfs an Infrastrukturinvestitionen überfordert sein, so dass einige Gesellschaften und Länder nicht in der Lage sein werden, sowohl die akuten als auch die chronischen Auswirkungen des raschen Klimawandels aufzufangen.» Das Kapital ist überfordert.

Die Welt erlebte 2023 ihr heißestes Jahr, in dem «Klimarekorde wie Dominosteine fielen», da die globale Durchschnittstemperatur fast 1,5 °C über dem vorindustriellen Niveau lag, so die europäische Erdbeobachtungsagentur Copernicus. Die globalen Durchschnittstemperaturen waren im Jahr 2023 höher als jemals zuvor in den letzten 100.000 Jahren.

Wenn die Davoser Elite in ihrem Luxusresort einen Blick auf den Schnee werfen würde, würde sie feststellen, dass die Gesamtschneedecke in der Schweiz um fast 8 Prozentpunkte zurückgegangen ist, wenn man die Dreijahresdurchschnitte der Saisonen 2002-03 bis 2004-05 mit denen der Saisonen 2020-21 bis 2022-23 vergleicht. Laut einer Studie, die letztes Jahr in Nature veröffentlicht wurde, ist die Zahl der Schneetage in den Alpen in den letzten 20 Jahren stärker zurückgegangen als in den 600 Jahren davor. Der Wintersport in Davos ist in Schwierigkeiten.

Wissenschaftler:innen haben davor gewarnt, dass extreme Wetterereignisse mit fortschreitender globaler Erwärmung häufiger und intensiver werden und dass dringend Maßnahmen ergriffen werden müssen, um die Treibhausgasemissionen bis 2030 um fast 45 % zu senken, damit die Erwärmung auf höchstens 1,5 °C begrenzt wird. Derzeit sind wir auf dem Weg zu fast 3°C. Die WEF-Teilnehmer:innen bieten jedoch keine Lösungen für diese wachsende Katastrophe an, sondern wiederholen nur die Forderung der COP28 nach einer «Abkehr von fossilen Brennstoffen» und nach mehr erneuerbaren Energien und globaler Zusammenarbeit. Von einer Übernahme der fossilen Brennstoffunternehmen oder einer globalen Planung zur Unterstützung armer Länder bei Umweltkatastrophen ist keine Rede. Stattdessen sind die Unternehmen für fossile Brennstoffe in Davos präsent, um «business as usual» zu gewährleisten.

Zwei weitere Themen beunruhigten die WEF-Teilnehmer:innen: künstliche Intelligenz und die Gefahr, dass von den unkontrollierten generativen KI-Maschinen «weit verbreitete Fehlinformationen» ausgehen könnten, und die wachsende Zahl zwischenstaatlicher bewaffneter Konflikte in der Welt.

Das globale Kapital ist besorgt über die Beeinträchtigung von Handel und Investitionen durch geopolitische Rivalitäten und soziale Unzufriedenheit, die durch «Fehlinformationen» über Ungleichheit und Wirtschaftswachstum verursacht werden. Aber die Teilnehmer:innen sind weniger besorgt über den Verlust von Arbeitsplätzen durch künstliche Intelligenz für große Teile der arbeitenden Bevölkerung oder über die schrecklichen Verluste an Leib und Leben durch den russisch-ukrainischen Krieg oder die israelische Zerstörung des Gazastreifens oder die Millionen Hungernden und Vertriebenen im Bürgerkrieg im Sudan oder die Bombardierung von Städten und Menschen im Jemen. Aber natürlich sind sie besorgt, wenn sich die Spannungen um Taiwan zu einem direkten militärischen Konflikt zwischen China und den USA auswachsen, der die gesamte Weltordnung bedrohen würde.

Zu welchem Schluss kommt der WEF-Risikobericht in seiner Umfrage unter den Teilnehmer:innen von Davos? «Mit Blick auf das Jahr 2024 stellen wir fest, dass die Aussichten für die Welt in den nächsten zwei Jahren überwiegend negativ sind und sich im Laufe des nächsten Jahrzehnts noch verschlechtern werden. […] Die Aussichten für den 10-Jahres-Zeithorizont sind deutlich negativer, wobei fast zwei Drittel der Befragten stürmische oder turbulente Aussichten erwarten.»

Nicht gut für das Kapital und noch schlechter für die arbeitenden Menschen.


Übersetzung durch die Redaktion

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