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Pflegenotstand: “Wir sind wütender als noch vor 2 Jahren, weil klatschen einfach nicht reicht.”

Am 12. Mai ist Tag der Pflege. Dringender denn je brauchen wir eine breite soziale Bewegung für bessere Arbeitsbedingungen, da die Pflegefachpersonen am Anschlag sind, wie Zora im Interview über den Pflegenotstand, die Folgen neoliberaler Sparpolitik und Auswirkungen der Coronapandemie berichtet. Sie arbeite auf einer spezialisierten Spitalabteilung.

Interview mit Zora[1] von Josephine Kunze und Lisi Kalera (BFS Basel); aus antikap

Interviewer:innen (Josephine Kunze und Lisi Kalera): Zora, die Coronakrise hat den Pflegenotstand sichtbar gemacht, der aber schon vor der Coronapandemie bestand und nach der Coronapandemie auch nicht vom Tisch sein wird. Zusätzlich haben die Sparmassnahmen (bzw. Fallpauschaleneinführung) den Druck auf die Pflege erhöht. Wie hast du die Auswirkungen der Sparmassnahmen in deinem Arbeitsalltag zu spüren bekommen? Kannst du dies anhand von ein, zwei konkreten Beispielen darlegen?

Zora: Als Antwort auf diese Frage ist mir leider nichts Neues eingefallen, als das, was wir schon seit Jahren immer wieder von Pflegenden hören.  Der Personal- und der damit einhergehende Zeitmangel führen zu Stress, zu Müdigkeit, zu Frustration darüber, den Menschen, die wir betreuen, nicht gerecht zu werden, und zur Angst, Fehler zu machen oder etwas zu verpassen. Die anhaltende Belastung führt dazu, dass viele Pflegende krank werden oder kündigen, um entweder an einem anderen Ort wieder das Gleiche zu erleben oder sich aus dem Beruf zurückzuziehen. Diese hohe Fluktuation führt zu Wissens- und Qualitätsverlust und ist natürlich wiederum belastend fürs Team, da immer wieder viel Energie in Einarbeitungszeit oder Weiterbildungen (z.B. bei Intensiv- oder Notfallstationen) gesteckt werden muss. Diese Einarbeitung zieht auch wieder viel erfahrenes Personal aus der Arbeit am Bett [aus der Arbeit bei den Patient:innen] selbst ab und erhöht den Stress.

Bei mir persönlich führte dieser dauerhafte Stress im letzten Jahr zu zunehmender Wut und Aggression und abnehmender Empathie Patient:innen und Mitarbeitenden gegenüber. Das hat mich natürlich sehr fest belastet, da ich mich selber als einfühlsamen und geduldigen Menschen kenne und auch einen anderen Anspruch an mich habe, wie ich mit anderen Menschen umgehe. Im Gespräch mit Freundinnen aus der Pflege habe ich gemerkt, dass ich nicht die Einzige bin, die emotional so reagiert. Empathieverlust gilt als ein Kriterium für ein (kommendes) Burnout. Mit einer Reduktion des Arbeitspensums konnte ich wieder zurück zu mir und meiner ausgeglicheneren Persönlichkeit finden. Ich bin damit nicht alleine. Die meisten Pflegenden, die es sich leisten können, arbeiten nicht 100 % und sorgen damit auf eigene Kosten für ihre Gesundheit.

Welche Herausforderungen der Coronakrise kannst du direkt auf die Sparmassnahmen zurückführen?

Der fortbestehende Personalmangel und die bereits strenge und intensive Arbeitssituation haben sich in der Krise deutlich verstärkt. Bereits vor der Pandemie war die Personalbesetzung knapp. Nun können sich viele vorstellen, was passiert, wenn zum vorher bestehenden Stress noch Folgendes dazukommt:  mehr Patient:innen (also mehr Arbeit), vermehrte Patient:innen in Isolation (d.h. jedes Mal Schutzkleider anziehen, bei vergessenem Material auf Kolleg:innen angewiesen sein, die ja auch fast keine Zeit haben, Zimmer bei Austritt doppelt so gründlich putzen, etc.), mehr Krankheitsausfälle oder Selbstisolationen/Quarantäne im Team, häufigeres Einspringen für kranke Kolleg:innen, ständige Prozessänderungen betreffend Vorgehen bei Coronapatient:innen, 9 Stunden am Stück FFP2 Masken tragen, zusätzlich erhöhter Lärmpegel durch die lauten Luftfilter, Angst, selber angesteckt zu werden und und und

Jetzt – mit Omikron – sind wir erneut in einer Personalkrise. Es ist unglaublich; es fehlen im Moment zum Teil mehr als 10 % des Personals wegen Coviderkrankungen – zusätzlich zu anderen Krankheitsausfällen, Unfällen oder Mutterschaftsurlaube. In diesem Setting mit zu wenig Personal muss zusätzlich wieder das neue Personal eingearbeitet werden. Dass das nicht befriedigend passiert, kann mensch sich ja vorstellen.

Zurzeit habe ich das Gefühl, dass wir voll auf der Kippe stehen. Wir sind wirklich alle richtig müde und erschöpft. Bei uns (ein grosses Team von etwas mehr als 100 Menschen) künden pro Monat 2 bis 4 Personen. Ich kenne Pflegende, die seit fast 20 Jahren in diesem Beruf arbeiten und so Vollblut-Pflegende sind und sagen, dass sie nicht mehr mögen oder unbezahlt Urlaub nehmen, damit sie nicht kündigen. So krass habe ich das wirklich in meinen 12 Jahren Erfahrung noch nicht erlebt. Ich glaube, was auch belastet, ist der Gedanke, dass diese Arbeitsbelastung noch ein paar Jahre anhält, weil diese Lücke in der Personaldecke nicht in 3 Monaten gestopft werden kann. Nein, das wird Jahre dauern. Und solche Bedingungen hinzunehmen, wenn mensch schon müde ist, ist auch nochmals anders als wenn es einfach ein Durchstehen für ein halbes Jahr wäre.

Wir sind wütender als noch vor 2 Jahren, weil klatschen einfach nicht reicht und auch zwei Jahre Pandemie und Aufmerksamkeit die Situation nicht verbessert hat. Es wurde viel geredet und diskutiert, aber es ist nichts passiert.

Das hört sich schrecklich an. Wie geht ihr im Kollektiv damit um? Gibt es unter den Mitarbeitenden eine solidarische Atmosphäre (als Voraussetzung sich kollektiv zu organisieren) und hat sich das mit der Coronapandemie verändert?

Eine solidarische Atmosphäre gab es unter Pflegenden schon immer. Die Arbeitssituation ist bei Treffen untereinander oder bei Treffen mit früheren Kolleg:innen immer wieder Thema. Wir sitzen gefühlt im gleichen Boot und die Probleme sind in fast allen Spitälern gleich.

Aber bei Stresssituationen im Spital kommt es trotzdem immer wieder zu Ungeduld und patzigen Tönen unter Mitarbeitenden und auch zwischen Teams verschiedener Berufsgruppen oder Stationen. Es ist klar, dass wenn alle Stationen personell knapp besetzt sind, versucht wird, das eigene Team vor noch mehr Arbeit zu schützen, z.B. durch Ablehnung von komplexen Patient:innen von der Notfallstation auf die Intensiv- oder Allgemeinstation oder Abdelegieren von Aufgaben an die folgende Station.

Gibt es eine kollektive Organisierung zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen?

Es gibt sehr viel Austausch untereinander und es wurden z.T. Forderungen an die Spitalleitung gestellt. In Teamsitzungen zeigten sich im letzten Jahr auch Leitungspersonen öfters und stellten sich den Pflegenden direkt. Eine grosse kollektive Organisierung gab es vor der Pflegeinitiative letzten Herbst. Das Gefühl entstand, dass alle zusammen an einem Strang ziehen, ein gemeinsames Ziel hatten und mehr oder weniger aktiv sein können (von Demo zu Ja Kleber kleben oder Fahnen aufhängen). Grosse Veränderungen wurden nicht erzielt, aber seit der Initiative gibt es immer wieder kleiner Verbesserungen, die zwar nicht die akute Situation lösen, aber zumindest Hoffnung machen. Es gibt beispielsweise ein Spital, welches eine Arbeitszeitverkürzung ausprobiert.

Generell würde ich aber nicht sagen, dass es eine flächendeckende kollektive Organisierung gibt. Ich glaube, viele von uns sind zu müde und zu erschöpft und wollen sich nach der strengen Arbeit nicht auch noch mit dem Thema beschäftigen, sondern brauchen und suchen Abstand. Viele, die schon eine Weile im Beruf sind, sind auch kampfesmüde. Es wurde schon so oft darauf hingewiesen. Passiert ist aber nichts. Seit Jahren laufen die Veränderungen immer in die eine Richtung – und zwar in Richtung Verschlechterung. Ich war früher auch motivierter und habe mich öffentlich geäussert, bin aber inzwischen leider recht desillusioniert und auch nicht mehr aktiv. Wir fühlen uns ohnmächtig, es wurde schon viel probiert, aber es hat irgendwie nichts gebracht.

Solange diese neoliberale ökonomische Haltung im Gesundheitswesen dominiert und die Boni und Dividenden der Privatkliniken wichtiger sind als Patient:innen und Pflegende, ist es schwierig.

Welche längerfristig wirksamen Perspektiven siehst du, um die Pflege zu entlasten und dem Pflegenotstand entgegenzuwirken?

Bessere Arbeitsbedingungen und vermehrte Ausbildung. Eine der lautesten Forderungen in der «Pflegeszene» betreffend bessere Arbeitsbedingungen ist eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn vor allem bei Schichtarbeitenden. Das bedeutet, dass ein 80%-Pensum wie 100 %-Pensum entlöhnt wird.

Aber insgesamt braucht es ein Umdenken in der Gesundheitspolitik. Weg vom kapitalistischen gewinn- und wettbewerbsorientierten hin zu einem patientenorientierten Gesundheitswesen, das Teil einer öffentlichen Versorgung ist.

Gesundheit ist keine Ware!

Möchtest du noch etwas ergänzen?

Ja, ich möchte noch Folgendes hinzufügen: Die Stimmung unter Pflegenden hat sich verändert. Dies ist einerseits der Coronakrise und damit einhergehend der vermehrten öffentlichen und medialen Aufmerksamkeit geschuldet, und andererseits auch der Pflegeinitiative, über welche im Herbst 2021 abgestimmt wurde.

Zum einen haben wir das Gefühl, dass wir jetzt gehört werden und das Thema endlich öffentlich breiter diskutiert wird. Das und auch das Ja der Pflegeinitiative wurde positiv aufgenommen.

Gleichzeitig sind wir auch wütend. Wir sind wütender als noch vor 2 Jahren, weil klatschen einfach nicht reicht und auch zwei Jahre Pandemie und Aufmerksamkeit die Situation nicht verbessert hat. Es wurde viel geredet und diskutiert, aber es ist nichts passiert. So war es für uns sehr enttäuschend, dass die Spitäler selbst die Pflegeinitiative ablehnten. Es ist fies, zu wissen, dass dir dein Arbeitsgeber in Teamsitzungen und Personal-Mails immer wieder sagt, dass sie alles tun, um deine Situation zu verbessern, aber sich auf politischer Ebene in der Öffentlichkeit gegen verbesserte Arbeitsbedingungen positioniert.

Wir sind wütend und wir sind es leid, darum kämpfen zu müssen, dass wir bessere Arbeitsbedingungen haben, damit wir die Menschen würdevoll behandeln können. Wir sind müde, aber geben weiterhin unser Bestes und betreuen die Menschen, die unsere (medizinische) Hilfe benötigen. Wir sind erschöpft und wir brauchen die Unterstützung und den Druck von allen, damit sich für uns alle etwas ändert.


[1] Name von der Redaktion geändert.

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1 Kommentar

  1. Pingback:Der Pflegenotstand hat System

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