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Afghanistan: Selbstorganisierte Direkthilfe für die leidende Bevölkerung Afghanistans

Sohail Khan ist 2016 aus Afghanistan in die Schweiz geflüchtet und engagiert sich in der von ihm gegründeten NGO „Education for Integration“. Bisher hat sich die NGO vor allem für die Integration von (afghanischen) Geflüchteten eingesetzt. Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 verschob sich der Fokus auf die direkte Hilfe für Menschen in Afghanistan.

Interview von Philipp Gebhardt mit Sohail Khan; aus antikap

Sohail, unmittelbar nach der Machtübernahme der Taliban habt ihr angefangen direkte Hilfe für die Menschen in Afghanistan zu leisten. Wie sehen diese Hilfsleistungen aus?

Wir haben das Projekt „Danke Schweiz“ in Afghanistan gestartet, um bedürftige Familien zu unterstützen. Zusammen mit lokalen Freiwilligen, die an mehreren Orten in Afghanistan tätig sind, verteilen wir Lebensmittel (Bohnen, Reis und Öl) an die Menschen in Not. Nebst der Unterstützung mit lebensnotwendigen Gütern wollen wir den Bewohner:innen auch die Botschaft vermitteln, dass wir bei ihnen sind und sie nicht im Stich lassen.

Wie organisiert ihr euch konkret und wie sorgt ihr dafür, dass das Essen bei den Bedürftigen ankommt?

Uns war von Anfang an wichtig, dass wir uns auf vertrauenswürdige Freiwillige stützen können. Wir suchten diese Personen sehr sorgfältig aus, indem wir unter anderem in unserem Umkreis fragten, ob sie Verwandte oder Bekannte haben, die sich so eine Aufgabe zutrauen würden. Es ist eine sehr herausfordernde Aufgabe, weil sie mit grosser Verantwortung und vielen Erwartungen verbunden ist und die Situation in Afghanistan sehr instabil bleibt. Bei Verteilaktionen kann es sein, dass Personen aus Frustration und Hunger Probleme verursachen. Zum Glück konnten wir 60 lokale Freiwillige für das Projekt gewinnen, von denen viele Familie oder Bekannte hier in der Schweiz haben.

Unsere Freiwilligen leben in Städten wie Herat, Tahkar, Gazni und Kabul. Weil sie aus diesen Städten kommen, kennen sie die lokalen Verhältnisse und wissen, welche Menschen dringend Hilfe benötigen. Das sind in erster Linie Frauen, von denen viele verwitwet sind. Um zu garantieren, dass das Essen bei den Bedürftigen ankommt, haben wir drei „security factors“ bestimmt:

1. Wir vertrauen unseren Freiwilligen und jede:r von ihnen führt eine Liste mit Bedürftigen.

2. Personen, die unterstützt werden möchten, registrieren sich in dieser Liste.

3. Als Beweis für die tatsächliche Auslieferung des Essens verlangen wir Quittungen, Fotos, oder andere mediale Beweise (z.B. Berichte von Kabulnews oder dem nationalen Fernsehen RTA Pastho).

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Damit eure Hilfe nicht kriminalisiert wird, braucht ihr eine Erlaubnis der neuen Machthaber. Wie gestaltet sich euer Kontakt mit den Taliban?

An erster Stelle steht für uns die Sicherheit unserer Freiwilligen. Wir nahmen Kontakt mit der neuen Regierung auf, um zu erfahren, was die neuen Regeln für humanitäre Organisationen sind. Weil wir nicht direkt politisch aktiv sind und unser Hauptziel ist, den Menschen zu helfen, haben uns die Taliban die Erlaubnis gegeben. Trotzdem bedeutet dieses nicht, dass wir in irgendeiner Form mit dem Regime kollaborieren oder Menschenrechtsverletzungen tolerieren. Dies haben wir auch den Taliban so mitgeteilt.

Du redest von einer riesigen Nachfrage nach euren Essenslieferungen. Warum ist die internationale Entwicklungshilfe so rasch zusammengebrochen?

Das lag vor allem daran, dass die Situation für viele Freiwillige vor Ort nicht mehr sicher war. Mittlerweile ist UNICEF teilweise wieder aktiv in Kabul. Auch das Rote Kreuz blieb vor Ort, um medizinische Hilfe zu leisten.

Es ist allerdings schwierig, die Situation zu überblicken. Das Einzige, was wir von unseren Freiwilligen mitbekommen, ist, dass die Nachfrage viel grösser ist als die angebotene Hilfe. Allein bei uns haben sich innerhalb von zwei Wochen über 30’000 Familien gemeldet. Das liegt unter anderen daran, dass wir in den grossen Medien in Afghanistan mehrmals erwähnt worden sind.

Bereits nach wenigen Wochen haben die Taliban ihre anfänglichen Versprechen, eine plurale Regierung zu bilden und Frauenrechte zu schützen, über Bord geworfen. Was kommt noch auf die afghanische Bevölkerung zu?

Diese Frage kann niemand beantworten. Aber was ich mit meiner Erfahrung sagen kann, ist, dass die Zukunft für die afghanische Bevölkerung nicht gut aussieht, weil meiner Meinung nach weiterhin viele Länder aussen- und geopolitische Interessen in Afghanistan verfolgen und die Stabilisierung des Landes unter der Herrschaft der Taliban nicht in ihrem Interesse ist. Das Wichtigste, was wir uns für die Zukunft Afghanistans wünschen, ist, dass nach 45 Jahren Krieg endlich Frieden einkehrt.

Wie werden die westlichen Regierungen auf diese Entwicklungen reagieren? Besteht die Gefahr einer Rehabilitierung der Taliban, z.B. um Geflüchteten in Europa Schutz zu verwehren? Bereits einen Monat nach der Machteroberung der Taliban forderte z.B. die Schweizerische Volkspartei (SVP) die Verschärfung des Asylrechtes, um die „drohende Flüchtlingswelle abwehren“ zu können.

Das ist möglich. Zentral ist, dass der Westen der afghanischen Bevölkerung zur Seite steht und sie unterstützt. Man muss berücksichtigen, dass das Land seit 45 Jahren im Krieg ist und jede einzelne Familie darunter gelitten hat. Die meisten Auseinandersetzungen im Land waren wegen politischen Interessen von äusseren Kräften. Die Leidtragendende war aber immer die afghanische Bevölkerung.

Ich bin der Meinung, dass die europäischen Länder und somit auch die Schweiz die Türen öffnen sollen für all diejenigen, die in den letzten Jahren in Afghanistan für die „Ideale des Westens“ gekämpft haben – also für Freiheit, Demokratie und Gleichberechtigung.

Alle Schweizer Parteien sowie die Bewohner:innen des Landes sollten verstehen, dass das Leben von vielen Menschen davon abhängt, ob sie hier Schutz finden können. Gleichzeitig sollte die Schweiz auch vor Ort helfen, zum Beispiel indem sie Organisationen wie die unsere unterstützt, die bereits im Land tätig sind. Damit könnte man zumindest ein Teil des Problems an der Wurzel packen. Afghanistan befindet sich in einer humanitären Krise. Wenn der afghanischen Bevölkerung nicht sofort breite Hilfe zukommt, werden weitere unschuldige Leben geopfert.

AFGHANISTAN BRAUCHT EURE HILFE!

Spenden an:

Education For Integration IBAN:

CH03 0024 8248 1604 6102 T

Bireggstrasse 36

6003 Luzern

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