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Ohne bewaffneten Widerstand ist der ukrainischen Lohnabhängigenklasse keine eigene Klassenposition möglich

Eine historisch-materialistische Perspektive richtet Politik immer nach dem historisch Möglichen aus. Revolutionsschwärmerisches Umstürzlertum mag sich zwar nobel anhören, geht in der Ukraine aber gerade an der Realität vorbei. Realistisch ist hingegen, dass eine unabhängige Klassenposition durch die ukrainische Lohnabhängigenklasse ohne die Unterstützung des bewaffneten Widerstands in der Ukraine durch den Westen bald einmal nicht mehr möglich wäre.

von João Woyzeck (BFS Zürich)

Dass ich als Marxist für die Bewaffnung des ukrainischen Widerstands durch NATO-Mitgliedstaaten einstehe, wird mir von anderen revolutionären Linken immer wieder zum Vorwurf gemacht. Im Zentrum der Vorwurfs steht ein Gegensatz, der zwischen der Unterstützung der Waffenlieferungen durch den Westen und einer behaupteten unabhängigen Klassenposition konstruiert wird: 

Linke Kritiker:innen fordern entweder von den ukrainischen und russischen Soldat:innen, ihre Waffen niederzulegen und den Krieg zu beenden, oder, den wirklichen Feind in der Spitze der kapitalistischen Regierung des jeweils eigenen Staates zu sehen, d.h. diesen inneren Feind zu bekämpfen. Diese vermeintliche unabhängige Klassenposition speist sich dabei mehr aus Binsenweisheiten denn aus den tatsächlichen historisch-materiellen Gegebenheiten.

Die gesellschaftlichen Bedingungen in der Ukraine

Dass es bisher noch zu keinem Ende des Krieges gekommen ist, liegt nicht einfach daran, dass sich die Lohnabhängigenklassen der Ukraine und Russlands noch immer nicht gegen ihre eigenen Herrschenden gewendet haben oder ihre Waffen noch immer nicht niedergelegt haben. Wäre dies so einfach, wäre dies wahrscheinlich schon längst passiert.

Dass der Krieg unterdessen immer noch weitergeht, zeigt, wie realitätsfern die Forderung nach einem Kampf den eigenen Herrschenden gegenwärtig ist. Denn die meisten ukrainischen und russischen Arbeiter:innen (wie im Rest Europas) bilden ihr Selbstverständnis nicht aus ihrer Klassenlage heraus und organisieren sich dem entsprechend in politischer Hinsicht mehrheitlich auch nicht als Lohnabhängige. Dies hat tief in den ukrainischen und russischen Gesellschaftsgefügen verwurzelte Ursachen, die auch der Krieg nicht einfach verschwinden lässt. Ganz gleich, wie sehr diese oder jene linke Gruppe noch dazu aufrufen mag.

Im Falle Russlands bspw. hat das Regime Putin seit gut zwanzig Jahren dafür gesorgt, dass die breite russische Bevölkerung mit der propagandistischen Verbreitung der erwünschten Deutungsschemata und dem Abstecken der Grenzen des öffentlich Denkbaren durch gewaltsame Repression systematisch in eine politische Passivität getrieben wurde. Das Regime wird weiterhin Soldat:innen aus dem infrastrukturell unterausgestatteten und ökonomisch verarmten russischen Osten in der Ukraine verheizen.

Auch die Aufforderung zum Niederlegen der Waffen, oder sogar die aktive Sabotage von Waffenlieferungen an den ukrainischen Widerstand, ist verfehlt. Dahinter verbirgt sich letztlich die Vorstellung, dass das Regime Putin und die Regierung um Selenskyj nationale Ableger ein- und derselben Ausbeuterklasse seien und Politik nichts weiter sei als der verlängerte Schatten der ökonomischen Verhältnisse. Diese Erklärung ist jedoch viel zu eindimensional. Tatsächlich besitzen die politischen und geopolitischen Interessen der jeweiligen Staaten durchaus eine gewisse Eigenständigkeit. In geopolitischer Hinsicht verfolgt das Regime Putin nämlich exakt das, was die Ukraine genau nicht will: die Besatzung der Ukraine! Allein schon deswegen kann die ukrainische Lohnabhängigenklasse gar nicht ohne Weiteres ihre Waffen niederlegen. Die Expansionspolitik Russlands muss als eigenständiger Faktor ernstgenommen werden.

Die Ukraine ist einer der ärmsten Staaten Europas[1], weswegen eigentlich nicht nur der Widerstand gegen den russischen Einmarsch notwendig ist, sondern auch soziale Kämpfe im Inneren. Dass Waffen von Arbeiter:innenorganisation an selbstorganisierte emanzipatorische Projekte und Arbeiter:innenorganisationen in der Ukraine geliefert würden, wäre nur schon deshalb wünschenswert. Dies wird allerdings nicht in signifikantem Ausmass passieren, da die dazu nötigen Strukturen sowohl innerhalb wie ausserhalb der Ukraine schlicht nicht bedeutend und gross genug sind. Die europäischen Rüstungsfirmen sind eben nicht in der Hand der entsprechenden Industriearbeiter:innen. Die selbstorganisierten revolutionär-linken Organisationen sind auch nicht gross genug, um den Widerstand gegen die russische Invasion ohne den bürgerlichen Staat zu schultern.

Kurzgesagt, die vermeintlich proletarische Klassenposition, die der Unterstützung des ukrainischen Widerstands mit Waffen aus NATO-Mitgliedstaaten entgegengestellt wird, ist ein abstraktes Konstrukt im geschichtsfreien Raum. Gegenwärtig ist es weder möglich, dass der ukrainische Widerstand die Waffen niederlegt, noch, dass er sie gegen seine eigenen Herrscher:innen richtet. Hingegen ist eine unabhängige Klassenposition durchaus möglich, wenn auch nur innerhalb der ungünstigen Einschränkungen der gesellschaftlichen Bedingungen, wie sie der russische Angriffskrieg und der historische Entwicklungsstand von Bewusstsein und Organisation der europäischen Lohnabhängigenklassen zulassen.

Den ukrainischen Widerstand nun aufgrund der Lieferung von Waffen durch NATO-Mitgliedstaaten nicht zu unterstützen oder gar durch Streiks Lieferstopps zu erwirken, wird einzig dazu führen, dass die Ukraine, in Teilen oder ganz, innert Wochen von der russischen Armee eingenommen würde. Man mag hinter dieser Strategie eine Position wittern, die in einer gewissen Abhängigkeit zu bürgerlichen Klasseninteressen steht, weil sie einen Widerstand unterstützt, der nicht zu einem Wechsel der Produktionsverhältnisse führt. Man muss sich aber fragen, wie die Ukraine nach einem unterlassenen bewaffneten Widerstand, ohne die Waffen aus dem Westen und ohne die Kooperation mit der bürgerlichen Regierung um Selenskyj, aussähe? Wie sähe das Leben unter einer Marionettenregierung aus, die von einem chauvinistischen und aspektweise[2] imperialistischen Land wie Russland gesteuert wird? Man stelle sich so ein Puppenregime genau vor, das der Ukraine (sowohl den russisch- wie ukrainischsprachigen Leuten) eine eigene nationale Identität abspricht (sie etwa als bolschewistische Erfindung; also als von aussen künstlich geschaffen und nicht kulturhistorisch gewachsen abtut[3]) und höchstwahrscheinlich die politisch nicht-konformen Ukrainer:innen verfolgen liesse.

Selbst für zwingend notwendige Friedensverhandlungen gilt, dass ein erfolgreicher Verteidigungskampf, d.h. die Zerstreuung der Vorstellung, man könne mit der Ukraine machen, was man will, die eigene Position in Verhandlungen stärkt. Als absolut unterlegene Nation bliebe der Ukraine lediglich noch zu hoffen, die Internationale Gemeinschaft interveniert, wenn der diktierte Frieden zu offensichtlich nach Unterdrückung riecht.

Die Sache mit dem interimperialistischen Krieg

Die Rechtmässigkeit einer aktiven Unterstützung des bewaffneten Widerstands der ukrainischen Bevölkerung steht in engem Zusammenhang damit, ob sich in der Ukraine imperialistische Blöcke in DIREKTER Konfrontation gegenüberstehen oder nicht. Anders ausgedrückt, geht es um die Befürchtung, man würde einem der beiden imperialistischen Blöcke, Russland oder der NATO, Auftrieb verschaffen.

Eine interimperialistische Dimension ist da, erklärt aber die Invasion der Ukraine nicht hinreichend

Es ist unleugbar, dass Russland auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion einen Annexionismus betreibt (bspw. Georgien, Tschetschenien) und Autokraten gegen selbstorganisierte demokratische Oppositionen unterstützt (Lukaschenko in Belarus[4]; Tokajew in Kasachstan[5]). Das Netz, das das russische Regime spinnt, reicht dabei weit über die ehemaligen Sowjetgebiete hinaus. Auch in Syrien beging Putins Regime Verbrechen gegen die Menschlichkeit.[6] So wurde Aleppo mit Streubomben und Chemiewaffen förmlich dem Erdboden gleichgemacht, um den Diktator Bashar Al-Assad an der Macht zu halten.[7] Die Kreml-nahe Söldnergruppe «Wagner» wurde in den Sudan entsandt, um den Militärputsch von General Abdel Fattah al-Burhan zu unterstützen.[8] Hinzukommen die Destabilisierung westeuropäischer Staaten durch die Unterstützung rechts-nationaler und rechtsextremer Organisationen[9], und die russische Einflussnahme auf die US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen 2016 in Form von Hackerangriffen auf die Kommunikationsstruktur und das digitale Wahlsystem, sowie durch die Streuung von Falschmeldungen auf den Sozialen Medien, wohinter letztendlich das leitende Zentralorgan des russischen Militärnachrichtendienstes (GRU) stand[10]. Zu guter Letzt darf auch der Einfluss russischer Propaganda in Kreml-freundlichen Medien wie Sputnik oder Russia Today in lateinamerikanischen Staaten – auch in solchen, die selbst keine autoritäre Kontrolle der Medienlandschaft führen – nicht unerwähnt bleiben[11]. Dies alles ist schliesslich nichts anderes als das Streben nach Weltherrschertum. Der Eroberungsfeldzug gegen die Ukraine reiht sich somit nahtlos in die imperialistische Linie Russlands ein.

Auf der anderen Seite muss ebenso offen ausgesprochen werden, dass Russland genuine Sicherheitsbedenken an seiner Westgrenze hatte aufgrund der fünf NATO-Osterweiterungen zwischen 1999 und 2000 sowie der Aussicht, dass die Ukraine enger mit der NATO assoziiert werden würde (die Ukraine selbst hat das Ziel der NATO-Mitgliedschaft 2019 in der eigenen Verfassung verankert; 2021 befand sich die Ukraine im Enhanced Opportunities Program, was als Vorstufe zu einem Aktionsplan für die Mitgliedschaft verstanden werden kann; im Zuge des russischen Angriffskrieges aber gab die Ukraine das NATO-Mitgliedschaftsziel zugunsten eines blockfreien Status auf).

Vor allem aber waren die ursprünglichen NATO-Mitgliedstaaten nach dem Kollaps der Sowjetunion nicht ernsthaft daran interessiert, der in den Trümmern der ehemaligen Sowjetunion übriggebliebenen Russischen Föderation wieder auf die Beine zu helfen und sie als vollwertiges Mitglied in die europäische Gemeinschaft zu integrieren. Das Ziel war nicht die Einbindung eines neuen kapitalistischen Partners, sondern die Ausbootung eines geopolitischen Konkurrenten. Diese interimperialistischen Spannungen existieren, zweifelsohne.

Wer sich aber mit dieser Bestandsaufnahme begnügt und den Angriffskrieg gegen die Ukraine darin bereits erklärt sieht, greift die wirkliche Situation nicht annähernd. Denn so wird eine gewichtige, die zentrale Dimension des Konfliktes unterschlagen: die militärische, gewalttätige Intervention in Ost- und Ostmitteleuropa, die tatsächlich Leben kostet, ging einseitig vom russischen Regime aus. Auf dem Territorium der Ukraine dehnt sich gerade nur ein einziger Hegemon annektionistisch und militärisch aus: Russland.

Angegriffen wird die Ukraine, nicht etwa ein Stellvertreter der USA

Zudem sind die Menschen und gesellschaftlichen Gruppen in Ostmittel- und Osteuropa nicht monolithisch. Und noch weniger sind die besagten sozialen Gefüge deckungsgleich mit den beiden Blöcken Ost und West (die viele anscheinend auch in sich selbst als monolithisch wahrnehmen). Am allerwenigsten aber sind sie und ihre Lebenswelt blosses Niemandsland, deren subjektive Interessen man übergehen darf für die Sicherheits(- und Macht)interessen von Ost und/ oder West.

Es sind Menschen, Individuen, Persönlichkeiten; sozio-ökonomische Klassen und Unterklassen, klassenübergreifende Einkommensschichten und klassenunabhängige kulturelle soziale Gruppen, aber allesamt mit eigenen Identitäten und subjektiven Interessen, nicht einfach identitätslose Ableger von Ost oder West, oder gar einer amerikanischen Interessenspolitik.

Wie aber sind dann die subjektive Identität und Wahrnehmung der ukrainischen (und weiterer ost- und ostmitteleuropäischer) Personen/ Gruppen in Verhältnis zu den geopolitischen Interessen Westeuropas und Nordamerikas auf der einen sowie denjenigen Russlands auf der anderen Seite zu setzen?

Viele Menschen Ost- und Ostmitteleuropas leben in ständiger Angst vor der russischen Hegemonialpolitik, und das seit den Zeiten der alten Zaren.

Ohne also die Osterweiterungen der NATO, die Russland ausgeschlossen und nie paritär in eine postsowjetische Weltordnung integriert hat, klein- oder wegzureden, darf eines nicht unterschlagen werden:

Die heterogen zusammengesetzten Bevölkerungsgruppen der Ukraine wollten mit dem bis vor Kurzem noch angestrebten NATO-Beitritt nicht etwa Teil des global mächtigsten imperialistischen Blocks werden, sie wollten nicht das Territorium der Russischen Föderation in Frage stellen. Ganz im Gegenteil, sie sahen in der durch Staatenbündnisse vertraglich zugesicherten Unterstützung durch westliche Staaten eine Garantie für die Wahrung ihrer nationalen Souveränität im, wie wir jetzt erleben, durchaus realistischen Ernstfall.

Wer riskiert gerade tatsächlich den Frieden in Europa?

Darüber hinaus muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass die NATO und die EU sich gemeinhin davor scheuen, den Forderungen der ukrainischen Regierung nach der Einrichtung einer Flugverbotszone oder dem polnischen Vorschlag einer NATO-Friedensmission auf ukrainischem Territorium nachzugeben.[12] Eben weil sie dies aufgrund einer direkten Konfrontation als eskalativ einstufen. Dies heisst nicht, dass man allen Argwohn gegen die NATO fallen lassen darf. Ganz im Gegenteil! Denn so wie die Interessen der ost- und ostmitteleuropäischen Gesellschaftsgruppen nicht einfach einiggehen mit den Zielen der dominanten NATO-Mitgliedsstaaten, genauso wenig ist es andersrum Staaten wie den USA, Frankreich oder Deutschland nur an der Souveränität einer ukrainischen Republik gelegen, sondern sie verfolgen natürlich auch eigene geopolitische Interessen in fremden Hoheitsgebieten.

Auch, aber eben nicht nur: Viele west- und ostmitteleuropäische Bürger:innen erkennen ihre Rechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit, erkennen ihre Werte und freiheitlichen Lebensbedingungen im Widerstand der ukrainischen Bevölkerung allegorisch wieder. Viele ostmitteleuropäischen Bürger:innen sind im Lichte des russischen Angriffskrieges verunsichert, wie weit eine ungebremste Expansionspolitik des Regimes Putins gehen könnte.

Was bedeutet das konkret für die eigene Strategie?

Entsprechend geht es für nicht direkt betroffene, aber besorgte Organisationen um eine sinnvolle taktische und ideologische Ausrichtung, um die Priorisierung und kohärente Einordnung gewisser Umstände, Forderungen und Kämpfe in einer Gesamtstrategie und -perspektive. Der Konflikt in der Ukraine und der politische Umgang stellt sich hier als Vexierfrage. Doch nur populistische Antworten auf Krisen gestalten sich einfach. Hingegen kann nur eine Linke, die vom Standpunkt der Unterdrückten her denkt, die Welt nicht auf schematische Blocks reduziert und sich vor allem nicht scheut, auch komplexe und differenzierte Schlüsse zu ziehen, hier Orientierung finden:

Weil die NATO-Mitgliedstaaten eine direkte militärische Konfrontation gemeinhin vermeiden wollen, die russische Regierung als der Angreifer den Krieg erst vom Zaum brach und vor allem weil ganz akut sowohl das Überleben der ukrainischen Bevölkerung als eine freiheitliche und ohne kulturellen Assimilationszwang, als auch das Überleben der Ukraine als souveräner Staat auf dem Spiel steht, geht es für das Territorium der Ukraine nicht um einen interimperialistischen Zusammenstoss, sondern in erster Linie um die Abwehr eines Invasoren.

Wer die Invasion der Ukraine nicht durch die Dimension einer unprovoziert angegriffenen Bevölkerung und ihr entsprechendes Recht auf Selbstverteidigung definiert, sondern den Angriffskrieg primär als Stellvertreterkrieg zweier imperialistischer Blocks sieht, lässt auch entsprechende Taten folgen. Doch wer meint, es ginge in Wirklichkeit darum, beiden imperialistischen Seiten die Unterstützung zu versagen und daher den Ukrainer:innen : «Waffen nieder statt Krieg!», zuruft, geht just an der historischen Realität vorbei. Denn der russische Aggressor wird dies nur dann in absehbarer Zeit tun, wenn er die Ukraine widerstandslos besetzen kann. Die historische Einordnung der Invasion der Ukraine zieht somit nicht nur eine strategische, sondern auch eine ganz und gar humanistische Konsequenz nach sich. Oder anders ausgedrückt, wer der ukrainischen Bevölkerung ein prinzipielles Recht auf Selbstverteidigung zugesteht, aber nicht die Waffen, mit denen sie die NATO-Mitgliedstaaten beliefert, muss fairerweise auch so konsequent sein und eines zugeben: Sie:er nimmt schlicht in Kauf, dass der ukrainische Widerstand einer militärischen Grossmacht unterliegt, für die Kriegsverbrechen offenbar Teil der Strategie sind.

Doch was bedeutet das nun konkret für die eigene Strategie? Vielleicht muss erst der russische Angriffskrieg enden, dann die NATO fallen. Sicherlich muss jetzt der ukrainische Widerstand mit Waffen unterstützt werden, aber gleichzeitig die Entmilitarisierung der NATO-Staaten gefordert werden bzw. ihre weitere innere Militarisierung unter dem Vorwand der Invasion der Ukraine gestoppt werden.

Die interimperialistische Dimension darf selbstredend nicht vergessen gehen. Mit Beendigung des Krieges gegen die Ukraine muss global eine Abrüstung gefordert werden. Zudem ist eine globale Sicherheitspolitik, die egalitäre internationale Beziehungen ermöglicht und nicht Regionalhegemonen durch geopolitische und wirtschaftliche Verdrängung in gegnerische Blocks treibt, Teil einer antikapitalistischen internationalistischen Perspektive für die Zukunft. Visionen für eine bessere Zukunft aber schliessen tagespolitische Kämpfe mitnichten aus. Tagespolitische Kämpfe ebnen überhaupt erst den Weg dorthin: Revolution ist auf dem europäischen Kontinent allemal nicht denkbar ohne eine nicht besetzte, d.h. unabhängige und frei denkende Lohnabhängigenklasse in der Ukraine!

Wie eine solche, historisch angemessene, differenzierte und pragmatische Strategie, die tagespolitische Kämpfe und Etappen nicht übergeht, aussehen könnte, zeigte uns bspw. Trotzki 1938. Trotzki war jemand, der eine auf historisch-materialistischer Analyse basierende Position sicher nicht aufgrund moralistischer Bedenken aufgegeben hätte. Und doch liest sich Trotzkis Parabel fast als Analogie zur gegenwärtigen Ukrainekrise:

«Nehmen wir an, daß morgen in der französischen Kolonie Algerien unter dem Banner der nationalen Unabhängigkeit ein Aufstand ausbricht und daß die italienische Regierung aus ihren eigenen imperialistischen Interessen heraus Waffenlieferungen an die Rebellen vorbereitet. Welche Haltung sollten die italienischen Arbeiter in diesem Falle einnehmen? Ich habe bewußt als Beispiel einen Aufstand gegen ein demokratisches imperialistisches Land gewählt, wobei die Intervention auf seiten der Aufständischen von einem faschistischen Land ausgeht. […] Selbst wenn im faschistischen Italien zur selben Zeit ein Generalstreik der Seeleute ausbrachen sollten die Streikenden zugunsten der Schiffe, die den aufständischen Kolonialsklaven Waffen bringen, eine Ausnahme machen; andernfalls wären sie nichts weiter als erbärmliche Gewerkschaftler, keine proletarischen Revolutionäre.»[13]

Eine unabhängige Klassenposition muss erstmal klein beginnen

Die oben beschriebene historisch kontextualisierte Strategie kann eine wirkliche Veränderung erbringen, zumindest für die bedrohte ukrainische Bevölkerung. Sie rückt jedoch auch die von allen echten Linken ersehnte Soziale Revolution weiter in die Ferne. Die Soziale Revolution ist schliesslich, wonach wir alle streben, um ernsthaft eine gerechtere Gesellschaft zu erreichen. Gleichzeitig ist jedoch nichts marxistischer, als Dinge entsprechend ihres historischen Entwicklungsstands zu nehmen. Man muss daher zwischen aufständischem Umstürzlertum und wirklicher revolutionärer Strategie, die zu allererst auch breiten Zulauf in der Bevölkerung finden und längerfristig Bestand behalten können muss, unterscheiden.

Es gibt allerdings in ganz Europa, von Wladiwostok bis Lissabon, keine zur Genüge, d.h. auch nur ansatzweise zu einer quasistaatlichen Gegengesellschaft organisierte Lohnabhängigenklasse noch steht der Kapitalismus in diesem Moment vor dem Kollaps.

Marx selbst ist hier ein gutes Beispiel, denn er zeigte sich sogar noch ob der berühmten Pariser Kommune differenziert: So war sie für ihn zugleich das Modell des revolutionären Übergangsstaates zum Kommunismus als auch eine historisch verfrühte Erscheinung.

Jawohl, Marx hielt die revolutionäre Gegengesellschaft, welche die Arbeiter:innenschaft und das Kleinbürger:innentum von Paris 1871 gegen das Kabinett Trochu (erste Regierung der Dritten Französischen Republik) bildeten, für verfrüht.

Nur unter historisch einzigartigen Umständen (Flucht des Pariser Staatsapparats nach Versailles, desorganisierte und dezimierte französische Armee nach dem Deutsch-Französischen Krieg) konnte sich die Kommune überhaupt bilden und kurzfristig halten.[14] Marx und die Internationale Arbeiter:innen-Assoziation (1. Internationale) hatten denn auch zur Ausnutzung der bürgerlichen Freiheiten der bürgerlichen Troisième République geraten, um zunächst noch den Organisationsgrad der Arbeiter:innenschaft voranzutreiben.[15]

Trotz ihres strategisch verfehlten Timings besass die Kommune für Marx natürlich Modellhaftigkeit, weil er an ihr erstmals beobachten konnte, wie selbsttätige Demokratie aussehen könnte,[16] bzw. frühere Vorstellungen von Selbstorganisation durch die Arbeiter:innenschaft praktisch konkretisiert vorfand.[17]

In Anlehnung an Marx und Engels darf der schlussendlich angestrebte Bruch mit dem bürgerlichen Staat nicht davon losgelöst passieren, ob die bewusstseinsmässige Entwicklung und organisatorische Vernetzung der Lohnabhängigenklasse bereit dazu ist.

Die Ausnutzung des bürgerlichen Systems, um als Lohnabhängigenklasse voranzukommen, ist eine heikle Angelegenheit. Auch hier lohnt sich ein Blick auf die beiden Gründungsväter des wissenschaftlichen Sozialismus: Marx und Engels waren von der Kooperation des Proletariats mit dem Bürgertum in den Februar- und Märzrevolutionen 1848 nachhaltig enttäuscht worden. Das französische Bürgertum wandte sich irgendwann gegen den proletarischen Kampfgenossen und liess ihn unter dem Oberbefehl des Interim-Kriegsministers Louis-Eugène Cavaignac blutig niederschlagen. Und die Bürgertümer der deutschen Länder (es gab noch keinen Einheitsstaat, nur diverse Fürstentümer) hatten noch nicht einmal das Vermögen, eine vollendete bürgerliche Republik durchzusetzen und einigten sich aus Angst vor einer Diktatur des Pöbels auf eine konstitutionelle Monarchie, in der die Exekutive in den Händen des Adels verblieb.[18]

Marx und Engels beargwöhnten fortan das Bürgertum – richtigerweise, wie ich finde. In den Satzungen des Kommunistischen Bunds setzten daher beide den Fokus auf von der Arbeiter:innenschaft selbstorganisierte und selbst gewählte Parallelstrukturen, um sukzessive immer mehr Druck auf das Bürgertum auszuüben und schliesslich die politische Gewalt zu ergreifen. Jedoch war dies als langwieriger Prozess des schrittweisen Erstarkens vorgesehen.[19] Noch 1895 würde Engels bemängeln, wie sehr die französische Arbeiter:innenschaft 1871 zurückgeworfen worden war[20], selbst wenn ihm die Kommune idealtypisch die Zukunft wies.[21]

In eben diesem Geiste sollte man gerade als revolutionäre Linke differenziert denken und den historischen Umständen entsprechend handeln. So wie schon Marx und Engels forderten, zunächst die Freiheiten und Rechte der bürgerlichen Demokratie auszunutzen, um als Arbeiter:innenschaft zu erstarken, bevor man die bürgerliche Staatsgewalt durch seine eigene ersetzt, sollte auch die systemkritische Linke heute, vom Stand des gegenwärtig Machbaren ausgehen. Bevor die Lohnabhängigenklasse als Gegenmacht zur bürgerlichen Gesellschaft auftreten kann, wird sie sich innerhalb der bürgerlichen Gesellschaftsstrukturen als Klasse für sich organisieren müssen; dazu gehört auch die bedingte Teilnahme an Institutionen und Prozessen der bürgerlichen Gesellschaft. Vor allem aber wird sich die Lohnabhängigenklasse am Leben halten müssen, um zu einem kollektiven Bewusstsein als Klasse zu finden. Dies geht, ganz realistisch betrachtet, nur in kritischer Kooperation mit dem bürgerlichen ukrainischen Staat und ausgerüstet mit den Defensivwaffen der NATO. Von daher ist der Gegensatz zwischen einer vermeintlich unabhängigen Klassenposition und der Lieferung von Waffen durch NATO-Mitgliedstaaten künstlich und konstruiert. Die wirkliche Aufgabe wird darin liegen, als Teil des ukrainischen Gesamtwiderstandes eine eigene Position zu finden.

In dieser Hinsicht ist die Zusammenarbeit mit der antiautoritären Linke in der Ukraine und in Russland notwendig. Zum einen, da in der Ukraine kurz- bis mittelfristig überhaupt erst eine solide liberale Demokratie erkämpft werden muss, die westeuropäischen Standards genügt und umfängliche Bürgerrechte sowie rechtsstaatliche Sicherheit gewährleistet.[22] Ebenso, weil Russland 2021 im besten Fall eine gemässigte Autokratie war[23], vor der es gegenwärtig scheint, als ob sie in einen vollumfänglichen Totalitarismus abgleitet, wo auch staatlich gelenkte Räume der persönlichen oder politischen Freiheit einer chauvinistischen Staatsdoktrin weichen müssen.[24]

Zum anderen aber auch langfristig, da ein Gesellschaftssystem, das auf der Aneignung fremder Arbeit basiert, es niemals ermöglichen wird, der Lohnabhängigenklasse volle politische und wirtschaftliche Beteiligung als Entscheidungsträger:innen zu gewähren. Aber, bis aus kleinen marxistischen und anarchistischen Organisationen und Plattformen eine Gegenmacht wird, die das kapitalistische System herausfordert, wird sich die revolutionäre Linke noch einige Zeit innerhalb der bestehenden bürgerlichen Gesellschaft vernetzen müssen.

Dabei ist es ist nur schon aus rein praktischen Gründen schwer vorstellbar, wie eine Puppenregierung unter der Führung des Kreml, die versuchen wird, dem Widerstand einer besetzten Bevölkerung durch Repression Herr zu werden, die Organisierung einer unabhängigen und regierungskritischen Lohnabhängigenklasse ermöglichen soll. «Bürgerliche Freiheit, Preßfreiheit, Versammlungs- und Vereinsrecht» waren schon für Engels die Voraussetzung, um zur Gegenmacht zur bürgerlichen Gesellschaft zu wachsen. «Ohne diese Freiheiten», das wusste schon Engels, könne sich die Arbeiter:innenklasse erst gar «nicht frei bewegen».[25]

Was tun?

In der Ukraine

Die Unterstützung des Widerstands der ukrainischen Gesamtbevölkerung mit all ihren diversen ideologischen Facetten und unter der Ägide eines bürgerlichen, gar noch demokratisch-defizitären, Staates darf selbstverständlich nur unter unabhängiger Kritik und mit der Perspektive zum einstigen Systembruch geschehen. Genau deswegen sind lokale antiautoritäre linke Organisationen wichtig, die bis auf Weiteres eine kritische Zusammenarbeit mit der ukrainischen Regierung pflegen, aber sich im Schatten des bürgerlichen Staates eigenständig organisieren, um dereinst einen lukrativen Versuch zum Bruch mit der kapitalistischen Gesellschaft zu wagen:

Nach dem Bertelsmann-Transformationsindex (BTI) war die Ukraine 2022 eine defekte Demokratie.[26] Der BTI zeigt zudem einen gewissen Trend in der rechtsstaatlichen Entwicklung der Ukraine an. Von 2012 bis 2022 konnte die Ukraine ihre Indexpunkte für Demokratie immerhin von 5,82 auf 6,8 steigern.[27] Dies ist ein kleiner, aber nicht irrelevanter Erfolg in Richtung der Hoffnungen, die sich die ukrainische Bevölkerung mit dem Euromaidan 2013 und 2014 gemacht hat.

Auch wenn die Regierung Selenskyj eine zentrale Rolle für das Gelingen des ukrainischen Widerstand spielt, darf aber nicht unter den Teppich gekehrt werden, dass auch diese Regierung noch immer keine lupenreine Verfechterin der ukrainischen Hoffnungen auf mehr bürgerliche Demokratie ist.

Am 20. März unterzeichnete Selenskyj ein Präsidialdekret zur Zusammenlegung der nationalen TV-Sender der Ukraine. Dies mögen sich viele damit erklären, dass Kriege eben nicht ohne Notstandsrecht funktionierten oder zu gewinnen seien. Ob aber die Meinungs- und Oppositionsfreiheit wirklich erst da aufhört, wo die Souveränität der Ukraine beginnt, wie Selenskyj nicht müde wird zu betonen,[28] bleibt mehr als fraglich. Dafür, dass die Hoffnung der Ukrainer:innen nach mehr politischer Mitbeteiligung also nicht doch noch enttäuscht wird, muss gerade auch die systemkritische Linke (auch um ihrer selbst willen) kämpfen!

An dieser Stelle sei auf die kritische Beteiligung des antiautoritär-linken Sozialnyj Ruch (Soziale Bewegung) am gesamtukrainischen Widerstand verwiesen. Obwohl selbst in den nationalen Widerstand gegen Russland involviert, steht der Sozialnyj Ruch der bürgerlichen Regierung um Selenskyj kritisch gegenüber. So prangerte der Sozialnyj Ruch an, dass der Nationale Verteidigungs- und Sicherheitsrat (staatliches Beratungsgremium des Präsidenten für die Entwicklung und Koordination des Vorgehens der Exekutive in Belangen der nationalen Sicherheit) am 20. März 2022 diverse Parteien, darunter auch (vermeintlich) linke Organisationen, aufgrund russlandfreundlicher Neigungen oder Positionen vorrübergehend verbieten liess.

Im Zentrum der Kritik des Sozialnyj Ruch steht dabei, dass die dafür nach Standards rechtsstaatlich-demokratischer Gesellschaften üblichen Untersuchungen und gerichtlichen Anordnungen ausgelassen wurden. Der Sozialnyj Ruch forderte stattdessen vollumfängliche rechtsstaatliche Garantien nach innen, auch für die Dauer des Krieges.[29]

Alona Liasheva, Co-Redakteurin der Zeitschrift Commons und Urbanistikdoktorandin mit Schwerpunkt Wohnungswesen in Osteuropa, berichtet mitunter aus persönlicher Erfahrung in der ukrainischen Stadt Lwiw, die im Zuge der Invasion der Ukraine zu einer Drehscheibe für die vielen Geflüchteten geworden war. Liasheva verweist in diesem Zusammenhang drauf, dass die Ukraine schon vor dem Krieg ein soziales Problem mit der Wohnungsfrage hatte. Mitte der 1990er wurde eine äusserst neoliberale Wohnraumpolitik eingeführt, von der vor allem die Immobilienbranche profitieren konnte, da der Wohnungsgebäudebestand beinahe in seiner Gänze privatisiert worden war. Auf der Strecke blieben natürlich sozialer Wohnungsbau und nichtgewinnorientierte Wohnangebote. Mitunter aufgrund dieser fehlenden sozialen Infrastruktur (zur Kostenregulierung und sozialen Verteilung) war es für die Regierung mit Anbruch des Krieges ungemein schwierig, die Geflüchteten angemessen aufzufangen. Schliesslich wurde diese Aufgabe in grossen Teilen der Zivilbevölkerung selbst überbürdet. Dementsprechend wurde ein grosser Teil der Versorgung von selbstorganisierten Projekten, von kleinen Lokalinitiativen übernommen. Liasheva bemerkt hierzu, dass die Zivilbevölkerung die Not zur Tugend macht, indem sie gewissermassen eine Art Quasi-Sozialstaat erfindet.[30]

Dies zeigt, dass eine gesellschaftliche Umverteilung der Last möglich ist. Insbesondere auch mit Hinblick auf den Wiederaufbau nach beendigtem Kriege: Der Wiederaufbau soll nicht eine Wiederherstellung eines neoliberalen Marktes für die verschiedenen öffentlichen Dienstleistungen wie Behausung, Ernährung, Bildung, Gesundheit etc. bedeuten, sondern die Einrichtung eines umfangreichen wohlfahrtsstaatlichen Systems der egalitären Verteilung. Die ukrainische systemkritische Linke übernimmt hier eine wichtige Rolle zur Verbreitung und Durchsetzung solcher Forderungen, um auf nationale und internationale Verantwortliche Druck auszuüben. Schliesslich ist auch das Grundrecht auf eine Lebensgestaltung, die vom Einkommensniveau unabhängig ist, für die Lohnabhängigenklasse Teil der «Luft, die sie zum Atmen nötig hat», wenn sie sich organisieren und erstarken will.[31]

In Russland

Die Ukrainekrise, der Angriffskrieg gegen die Ukraine und die wachsende Gleichschaltung und Repression unter dem russischen Regime, ist nur im Verbund mit der ukrainischen UND der russischen Zivilbevölkerung, insbesondere den beiden Lohnabhängigenklassen zu lösen.

In diesem Zusammenhang gibt es durchaus einige Nachrichten aus Russland, die optimistisch stimmen. Am 16. April 2022 berichtete RadioFreeEurope unter Berufung auf den Rechtsanwalt Pawel Chikow, Gründer der NGO für Rechtshilfe Agora, dass sich möglicherweise etwas über 1’000 Mitglieder der Nationalgarde der Einberufung in die Invasion widersetzen hätten.[32] Seit März wurden in mehreren russischen Städten, mindestens 5, Militärregistrierungs- und Rekrutierungsämter in Brand gesetzt.[33] Dies zeigt, dass die russische Bevölkerung eben nicht geschlossen hinter dem Despoten im Kreml steht, und sogar, dass einige Elemente der russischen Bevölkerung zu mutigem zivilen Ungehorsam bereit sind.

Regionen, in welchen zwischen dem 24. Februar 2022 und dem 31. Mai 2022 Rekrutierungsbüros in Brand gesetzt wurden. Der jüngste Fall ereignete sich am 30. Mai auf der Krim. Am selben Tag nahmen die Ordnungskräfte den Künstler Ilya Faber fest, weil er ein Kommissariat in Udmurtien (Föderationskreis Wolga) in Brand gesetzt haben soll. Quelle: die unabhängige russische Nachrichten-Website & Telegramkanal  7×7.  Horizontal Russia.

Es ist aber bei Weitem noch kein Kieler Aufstand, der sich in alle Windrichtungen ausbreitet. Man darf die positiven Nachrichten nicht überschätzen. Denn tatsächlich erstickt das russische Regime Opposition allzu gern frühzeitig im Keime. Der BTI beschrieb Russland 2022 als gemässigte Autokratie. Der Demokratieindex des Magazins The Economist stufte Russland 2021 als autoritäres Regime ein.[35]

Praktisch lässt sich das Russland vor dem Angriffskrieg gegen die Ukraine vielleicht noch am ehesten als gelenkte Demokratie bezeichnen. Das russische Regime gewährte in der Duma anderen politischen Parteien neben der Partei Einiges Russland einen Status als de facto Blockparteien. Um den Anschein eines funktionierenden Parlamentarismus zu gewähren, aber auch um andere Parteien mit gewissen Zugeständnissen an sich zu binden. Auch die Zivilbevölkerung konnte in unpolitischen Zusammenhängen eine relativ liberale Freiheit geniessen. Diese Freiheiten waren genau abgesteckt und tasteten die Macht der dominanten Kräfte um Putin nicht grundsätzlich an; in brenzligen Phasen wie bspw. während des FIFA World Cups 2018 wurden diese kontrollierten Freiräume stärker eingeschränkt.[34]

Es gibt nun Grund zur Annahme, dass Russland im Zuge des Krieges gegen die Ukraine und der wachsenden internationalen Isolierung der Russischen Föderation gewisse chauvinistisch-rechtsnationale Ressentiments verstärkt. Der Kreml schürt immer mehr die Vorstellung, dass man von aussen, von einer Art Globalismus bedroht sei, wogegen man die Verteidigung (teils?) imaginierter national definierter traditioneller Werte, Heimat und Identität immer mehr betont.

Im Zusammenhang damit werden die wenigen Räume freier Artikulation immer weiter eingeschränkt. Gerade was den öffentlichen Diskurs über den Krieg gegen die Ukraine anbetrifft, werden Ansichten, die von der offiziellen Staatsdoktrin abweichen, immer mehr kriminalisiert. Sowohl durch die Gleichschaltung der Medien als auch durch Änderungen im Strafgesetzbuch und Ordnungswidrigkeitengesetz, die abschreckende Repression gegen regierungs- und kriegskritische Aktivitäten ermöglichen. Dass Meinungen neben der öffentlichen Staatsdoktrin kriminalisiert werden, deutet womöglich sogar auf einen Übergang von autoritär gelenkten Halbfreiheiten zu einer Art von Totalitarismus hin.[36]

Da Russland ungemein stärker autoritär ist als die Ukraine, sich vielleicht gar auf dem Weg zu einer Art Totalitarismus befindet, ist eine Unterstützung der russischen Zivilbevölkerung sehr viel schwieriger. Grundsätzlich gilt es aber auch in Russland, den zivilen Ungehorsam, insbesondere seitens antiautoritärer Linken, gegen das Regime zu unterstützen. Auch für Russland sollte es das mittelfristige Ziel sein, das Putin-Regime umzuwerfen, um eine wirkliche liberale Demokratie mit umfangreichen Rechten zu ermöglichen und den Markt für öffentliche Dienstleistungen durch ein egalitär zugängliches staatliches Sozialsystem zu ersetzen. Aus diesen Gründen unterhält die BFS enge Kontakte mit der Russländischen Sozialistischen Bewegung (RSD) und dem Sozialnyj Ruch, publiziert ihre Erzeugnisse und richtet gemeinsame Veranstaltungen aus, um antiautoritär-sozialistischen Stimmen aus Russland un der Ukraine auch im Westen eine Plattform zu bieten. Die BFS will ihre Genoss:innen der RSD dabei unterstützen, in Russland eine echte bürgerliche Demokratie zu ermöglichen; auch als Sprungbrett für einen einstigen sozialistischen Bruch mit dem Kapitalismus.

Die russische Autokratie ist institutionell und gesellschaftlich fest verankert. Ein breites Niederlegen der Waffen oder ein Abzug aus der Ukraine ist ohne militärischen Druck seitens der Ukraine nicht denkbar. Anlass zur Hoffnung gibt allerdings, dass die RSD mit dem ukrainischen Sozialnyj Ruch kooperiert und gemeinsam für Waffenlieferungen an den ukrainischen Widerstand aus allen erhältlichen Quellen ausspricht. Dies zeigt, dass auch unter den Befürworter:innen von Waffenlieferungen durch die verfügbaren Quellen durchaus russische Arbeiter:innenorganisationen existieren, die eine unabhängige Position vom russischen Klassenstaat vertreten.

Haltloses Umstürztlertum: nicht nur ahistorisch, sondern gefährlich

Gerade geht es darum, dass die Ukraine ein souveräner Staat bleibt, bzw. überhaupt erst im vollumfänglichen Sinne einer wird. Darum, dass die defekte Demokratie überhaupt erst zu einer wirklichen Demokratie wird. Gerade geht es auch darum, dass die breite russische Bevölkerung sich gegen ihren Despoten im Kreml wendet und hoffentlich erstmalig erfolgreich wirkliche demokratische Freiheiten erkämpft. Das längerfristige Ziel bleibt selbstredend, die «Regierungsmaschine der herrschenden Klassen» durch eine «eigne Regierungsmaschine» der Lohnabhängigenklasse zu ersetzen.[37] Gegenwärtig aber ist dies sowohl in der Ukraine wie in Russland absolut ahistorisch, oder auf Gutdeutsch: unmöglich!

Die ukrainische Lohnabhängigenklasse muss gegenwärtig, wenn auch kritisch und misstrauisch, mit der bürgerlichen Gesellschaft und Regierung in der Ukraine kooperieren. Vor allem ist sie auf Waffenlieferungen aus NATO-Mitgliedstaaten angewiesen. Eine falsche Auffassung von unabhängiger Klassenposition darf nicht dazu führen, dass bspw. Arbeiter:innen in Griechenland Panzerlieferungen aus den USA verhindern. Einige Linke, die prinzipiell zwar das Recht auf Widerstand einer angegriffenen Bevölkerung hochhalten, mögen solche Boykottaktionen in ihren Parolen und Publikationen ja gutheissen. Aber tatsächlich führt dies nur zur Schwächung des ukrainischen Widerstands, von dem auch die Arbeiter:innenorganisationen in der Ukraine ein Teil sind.

Revolutionsromantische Phrasen, die eine proletarische Klassenposition nur abseits von Waffenlieferung aus dem Westen anerkennen, sind zurzeit nicht nur idealistische Wunschträume, sondern liefern die ideologische Rechtfertigung für einen de facto Absentismus. Sie missverstehen nicht bloss historische Entwicklungen, soziale Gefüge und gesellschaftliche Bedingungen, sondern disqualifizieren ganz konkret die aktive Unterstützung tagespolitischer Kämpfe.

Wie eine unabhängige Klassenposition innerhalb der gegebenen Rahmenbedingungen aber tatsächlich aussehen kann, zeigen uns revolutionär-linke Organisationen in der Ukraine und in Russland. Nicht zuletzt deswegen ist es wichtig, dass auch die westliche Linke die subjektiven Interessen und Perspektiven der durch den russischen Angriffskrieg oder die Repression des russischen Regimes Betroffenen einbezieht und die strategischen Schlüsse, die die ukrainische und russische Linke aus ihren praktischen Erfahrungen zieht, in ihren eigenen Klärungsprozess miteinbezieht.


Anmerkungen und Quellen:

[1] Nach offiziellen Statistiken lebten 2020 29,5% der ukrainischen Haushalte unter dem Existenzminimum.

2020 wurden im Schnitt 48% des Einkommens pro Haushalt für Essen ausgegeben. Im Vergleich dazu gaben die EU-28 durchschnittlich in den letzten zwei Dekaden zwischen 12,0 % und 12,5 % für Lebensmittel aus.

Das niedrige Pro-Kopf-BIP, das niedrige Individualeinkommen der Bevölkerung, der hohe Anteil für Lebensmittelausgaben sorgen insgesamt für eine sehr niedrige Ernährungssicherheit. Abrufbar auf: https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0263358 (2022).

Die Ukraine gehört in mehrfacher Hinsicht zu den ärmsten Staaten Europas. Für ein detailliertes finanzielles und soziales Ranking der Staaten in Europa siehe: https://en.wikipedia.org/wiki/Financial_and_social_rankings_of_sovereign_states_in_Europe#GDP_purchasing_power_parity_(PPP) (23.03.2022).

Schätzungen der Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) könnte eine Verlängerung des Angriffskrieges gegen die Ukraine zu einem langwierigen Konflikt dazu führen, dass 30 % der ukrainischen Bevölkerung unmittelbar und weitere 62 % im Verlauf eines Jahres in Armut abgleiten. Der Krieg hat die Ukraine laut Regierungsangaben bereits einen geschätzten Wert von 100 Mia. US-Dollar an systemrelevanter Infrastruktur gekostet. Abrufbar auf: https://www.rferl.org/a/un-ukraine-90percent-poverty/31755484.html (16.03.2022).

[2] Lenin definierte Imperialismus nach 5 Punkten:

«1. Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, daß sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen; 2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses Finanzkapitals; 3. der Kapitalexport, zum Unterschied vom Warenexport, gewinnt besonders wichtige Bedeutung; 4. es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen, und 5. die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet.» Aufrufbar auf: https://www.marxists.org/deutsch/ archiv/lenin/1917/imp/kapitel7.htm (22.07.2008).

Russlands Wirtschaft basiert entgegen dem Lenin’schen Modell vor allem auf der Ausfuhr von Waren (nicht von Kapital in periphere Regionen der Erde), d.h. vor allem von fossilen Rohstoffen wie Öl und Gas. Zudem dehnt Russland seinen Einfluss über andere Staaten in und ausserhalb von Europa aus, auch wenn sich dies vor allem auf die militärische Stärke Russlands stützt und nicht auf den Anteil am globalen Finanzkapital.

Ich persönlich bin trotz aller Kritik an Lenin (seine Politik entfernte sich ab 1918 sukzessive von seiner Vision in Staat und Revolution) der Ansicht, dass seine Imperialismus-Definition noch immer ein nützliches Analysewerkzeug bietet.

Gerade vor dem Hintergrund besagter Definition finde ich es eben nicht richtig, Putins Russland den Status als imperialistischer Staat abzusprechen, jedenfalls nicht in undifferenzierter Weise. Denn tatsächlich erfüllt Russland einen essentiellen Aspekt von Lenins Definition:

Denn auch wenn Russland 2021 gemessen an Gesamtumsatz, Gewinn, Vermögen und Marktwert gerademal 2 Firmen unter den Top 100 internationalen Konzernen bzw. 12 unter den Top 1000 platzierte, d.h. kaum Kapital exportiert oder fremde Märkte erschliesst/ unterwandert, profitiert Russland sehr wohl politisch wie ökonomisch von der teils militärisch teils durch wirtschaftliche Abhängigkeit (Rohstoffexporte) erwirkten Expansion des eigenen Einflussbereiches. Russland annektiert Gebiete militärisch, unterstützt durch Gewalt regionale Autokratien oder macht als Hegemon in regionaler Bündnispolitik ganze politische Systeme zu halbwegs gefügigen Semi-Puppenregierungen (Belarus, ehemals Ukraine). Allein schon, dass dieser Einfluss spätestens seit 2013 über die ex-sowjetischen Gebiete hinausreicht, sollte zu denken geben. Russland gehört damit nämlich eindeutig zu den wenigen Staaten, die die Welt unter sich aufteilen; auch wenn eher mit regionalem als globalem Einflussbereich. Wenn überhaupt nimmt das Imperialismusprädikat für Russland an Lenins Definition ernst, dass es ihm im Kern um die Aufteilung der Welt durch grosskapitalistische Machtblöcke ging. (Eine Aufteilung, die, wie sich grade zeigt, noch nicht abgeschlossen zu sein schien.) Deswegen spreche ich oben von aspektweise oder im Wesentlichen imperialistisch. Russland hingegen als halb-kolonialen Staat abzutun, birgt die Gefahr, das russische Regime (einschliesslich seiner Aussenpolitik) einseitig als Opfer des US- oder NATO-Imperialismus zu relativieren oder die subjektive Sichtweise von Bevölkerungen, die von Russland unterdrückt oder erobert werden, nicht ernst zu nehmen.

Zum Ranking der russischen internationalen Konzernen:

51.: Sberbank; 99.: Rosneft; 309.: Surgutneftegas; 367.: Gazprom; 388.: Norilsk Nickel; 467.: LukOil; 513.: Transneft; 530.: Novatek; 597.; VTB Bank; 751.: Tatneft; 861.: Novolipetsk Steel; 908.: Severstal; 1001.: Polyus, 1004.: EN+ Group International; 1155.: Inter Rao; 1209.: X5 Retail Group; 1335.: Magnit; 1591.: Moscow Exchange; 1605.: Magnitogorsk Iron & Steel; 1779.: Credit Bank of Moscow; 1818.: Sistema; 1965.: RusHydro. Abrufbar auf: https://www.forbes.com/lists/global2000/#3330e2755ac0 (2022).

[3] Abrufbar auf: https://www.dw.com/de/faktencheck-putins-blick-auf-die-geschichte-der-ukraine/a-60895811 (24.02.2022).

[4] Abrufbar auf: https://www.srf.ch/news/international/ein-jahr-nach-belarus-wahlen-der-elefant-des-belarussischen-machthabers (09.08.2021).

[5] Abrufbar auf: https://www.deutschlandfunk.de/proteste-in-kasachstan-und-die-interessen-russlands-100.html (10.01.2022).

[6] Abrufbar auf: https://www.hrw.org/de/news/2020/10/15/syrien/russland-gezielte-angriffe-auf-zivile-infrastruktur (15.10.2020).

[7] Abrufbar auf: https://www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-wie-aleppo-gebrochen-wurde-studie-des-atlantic-council-a-1134403.html (13.02.2017).

[8] Abrufbar auf: https://ecfr.eu/article/khartoums-autocratic-enabler-russia-in-sudan/ (15.12.2021).

Vgl. auch https://www.al-monitor.com/originals/2022/04/russia-wagner-group-expand-ties-sudan (13.04.2022).

[9] Abrufbar auf: https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/253039/vereint-gegen-liberale-werte-wie-russland-den-rechten-rand-in-europa-inspiriert-und-foerdert/ (24.07.2017).

[10] Abrufbar auf: https://de.wikipedia.org/wiki/Russische_Einflussnahme_auf_den_Wahlkampf_in_den_Vereinigten_Staaten_2016 (19.04.2022).

[11] Abrufbar auf: https://www.dw.com/de/russlands-propaganda-in-lateinamerika/a-61455988 (17.04.2022).

[12] Abrufbar auf: https://www.focus.de/politik/ausland/ukraine-krise/gastbeitrag-von-gerhard-mangott-russland-lauert-auf-kleinste-zeichen-der-schwaeche-was-beim-nato-treffen-auf-dem-spiel-steht_id_72956501.html#tocItem72954946 (24.03.2022).

[13] Abrufbar auf: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1938/05/denken.htm (22.07.2008).

[14] MEW Bd. 17, 338.

[15] MEW Bd. 17, 277f. vgl. auch MEW Bd. 35, 160.

[16] MEW Bd. 17, 577; MEW Bd. 17, 342; MEW Bd. 17, 545; MEW Bd. 18, 634. Vgl. Auch MEW Bd. 22, 198.

[17] MEW Bd. 7, 250; MEW Bd. 1, 248f.; MEW Bd. 1, 370.

●  Marx hielt die revolutionäre Gegengesellschaft, welche die Arbeiter:innenschaft und das Kleinbürger:innentum von Paris 1871 gegen das Kabinett Trochu bildeten, für verfrüht. Nur unter historisch einzigartigen Umständen (Machtvakuum nach dem Sturz von Napoléon III., desorgansierte französische Armee) konnte sich die Kommune überhaupt bilden und kurzfristig halten. Trotz ihres strategisch verfehlten Timings konnte Marx an ihr selbsttätige Demokratie erstmals historisch umgesetzt erleben und studieren.

● Geprägt durch die Erfahrung, dass sich die bürgerliche Klasse trotz anfänglicher Koalition zur Erkämpfung der (bürgerlichen) demokratischen Republik während der Februar- und Märzrevolution nach erfolgter Machteroberung schliesslich gegen ihren proletarischen Bundesgenossen gewendet hatte, waren Marx und Engels misstrauisch gegenüber den anderen Klassen und deren Interessen geworden. Fortan war es integraler Bestandteil der eigenen Strategie, dass das Proletariat, das noch zu keiner Mehrheit der Bevölkerung gewachsen war, zwar ein Bündnis mit anderen Klassen eingehen musste, allerdings bereits unmittelbar nach Eroberung der Macht seine Hegemonie gegenüber den anderen Klassen ausbaute, um aus der demokratischen Republik als politischer Durchsetzung des kapitalistischen Produktionsverhältnisses eine sozialistische Republik im Sinne einer Herrschaft der proletarischen Klasseninteressen zu machen. Dies wird in Marxens und Engels Ansprache der Zentralbehörde an den Bund aus dem März 1850 deutlich. Bemerkenswert ist dort die Organisation des Proletariats als quasistaatliche Gegengesellschaft zur bürgerlich-demokratischen Republik durch eine Art demokratisches Milizsystem (die Werktätigen delegieren aus ihrer Mitte in die Gesellschaftsverwaltung):

«Sie müssen neben den neuen offiziellen Regierungen zugleich eigene revolutionäre Arbeiterregierungen, sei es in der Form von Gemeindevorständen, Gemeinderäten, sei es durch Arbeiterklubs oder Arbeiterkomitees, errichten, so daß die bürgerlichen demokratischen Regierungen nicht nur sogleich den Rückhalt an den Arbeitern verlieren, sondern sich von vornherein von Behörden überwacht und bedroht sehen, hinter denen die ganze Masse der Arbeiter steht. […] Die Bewaffnung des ganzen Proletariats mit Flinten, Büchsen, Geschützen und Munition muß sofort durchgesetzt, der Wiederbelebung der alten, gegen die Arbeiter gerichteten Bürgerwehr muß entgegengetreten werden. Wo dies letztere aber nicht durchzusetzen ist, müssen die Arbeiter versuchen, sich selbständig als proletarische Garde, mit selbstgewählten Chefs und eigenem selbstgewählten Generalstabe zu organisieren und unter den Befehl, nicht der Staatsgewalt, sondern der von den Arbeitern durchgesetzten revolutionären Gemeinderäte zu treten. Wo Arbeiter für Staatsrechnung beschäftigt werden, müssen sie ihre Bewaffnung und Organisation in ein besonderes Korps mit selbstgewählten Chefs oder als Teil der proletarischen Garde durchsetzen. Die Waffen und die Munition dürfen unter keinem Vorwand aus den Händen gegeben, jeder Entwaffnungsversuch muß nötigenfalls mit Gewalt vereitelt werden. […]»

Man vergleich 21 Jahre später den ersten Entwurf von Marxens Kommuneschrift der Bürgerkrieg in Frankreich. Marxens Ziel bei seiner Vision von Gesellschaftsverwaltung war die grösstmögliche Vermeidung einer selbstständigen politischen Sphäre, einer bürokratischen Schicht. Gesellschaftsverwaltung sollte Milizpolitik durch die arbeitende Bevölkerung sein. In diesem Sinne sollten sich auch die proletarischen Soldat:innen in ihrem Widerstand/ ihrer Revolution selbst verwalten durch Delegation von Verantwortlichen aus den Reihen der eigentlich Tätigen. Eine Selbsttätige Demokratie könnte man sagen. In diesem Sinne ist auch Marxens Lob für die Pariser National Garde während der Pariser Kommune zu greifen, auch wenn Marxens Behauptung über diese der Realität nicht ganz standhält. Gut möglich, dass Marx die wirklich in der Verteidigung der Kommune gegen Versailles tätigen Arbeiter gegenüber den kleinbürgerlichen, wenn auch vom Pariser Porletariat und Kleinbügertum gewählten, Stadträten im Kommunerat bevorzugte. Auf jeden Fall erkennt man einen roten Faden, der sich über Jahrzehnte durch Marxens Denken zieht, insofern sich das Proletariat selbstständig militärisch organisieren und sich die Verwaltung durch dieses selbstorganisiertes Proletariat bestellt werden soll:

«Niemals waren Wahlen exakter, niemals haben Delegierte wahrhaftiger die Massen vertreten, aus denen sie hervorgegangen waren» In: MEW Bd. 17, 538.

[18] MEW Bd. 5, 402.

[19] MEW Bd. 7,244- 253.

1850 sahen Marx noch keinen institutionellen Bruch mit einem klassenspezifischen Staat zugunsten eines Kommunestaates (sozialistische Form von Demokratie) vor. Dies muss natürlich mitgedacht werden. In: MEW Bd. 18, 96; MEW Bd. 22, 197.

[20] MEW Bd. 22, 517.

[21] MEW Bd. 19, 6f.

[22] Sieh Fussnote 24.

[23] Gemässigte Autokratie mit 4,4 Demokratieindexpunkten für 2022 nach BTI. Abrufbar auf: https://bti-project.org/de/reports/country-dashboard/RUS (2022).

Nach dem Demokratieindex des Economist in 2021 mit 3,24 Indexpunkten ein autoritäres Regime. Abrufbar auf: https://www.economist.com/graphic-detail/2022/02/09/a-new-low-for-global-democracy (09.02.2022).

[24] Abrufbar auf: https://www.tempestmag.org/2022/04/from-managed-democracy-to-fascism/?fbclid=IwAR0SfNlUtxqERQ8uRM8rdeMW4nD0cmKrpjqEktVkzSuz_H-h5tWMfWOg5Hg (23.03.2022).

[25] MEW Bd. 16, 77.

Engels bezog sich damit auf die Verfassung, welche der Preussische Staat 1849/ 50 unter König Friedrich Wilhelm IV. erliess. Die Verfassung war für damalige Verhältnisse erstaunlich liberal, was wohl der Märzrevolution 1848 zu verdanken ist. Allerdings konnte der preussische König jedes Gesetz mit seinem Veto Gesetze abschaffen. Die Meinungs- und Versammlungsfreiheit waren im Sinne der öffentlichen Ordnung eingeschränkt. Engels urteilt über das liberale Bürgertum, weil dieses sich mit halbwegs liberalen Grundrechten und einer halbwegs demokratischen Staatsordnung zufriedengab. Das Bürgertum wird dabei vor allem zwei Beweggründe gehabt haben: einerseits ist ein halber Sieg besser als nichts und zweitens hatte das Bürgertum – was Engels besonders wichtig gewesen sein scheint – unter dem Eindruck der Märzrevolution von 1848 Angst vor zu viel Einfluss durch die Arbeiter:innenschaft.

[26] Abrufbar auf: https://bti-project.org/de/reports/country-dashboard/UKR (2022)

[27] Abrufbar auf: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/540471/umfrage/ukraine-bewertung-nach-bti/ (29.03.2022).

[28] Abrufbar auf: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/problematische-entscheidung-selenskyj-legt-tv-sender-zusammen/28184316.html (21.03.2022).

[29] Abrufbar auf: https://rev.org.ua/statement-on-temporary-ban-of-some-ukrainian-parties/ (21.03.2022).

[30] Liasheva, A.: Putins Regime, seine Gegner:innen und der ukrainische Widerstand | Bewegung für den Sozialismus – BFS; emanzipation – Zeitschrift für ökosozialistische Strategie, 2022, [YouTube] https://www.youtube.com/watch?v=5Uw4Ont1a7w, 24:30- 28:00.

[31] MEW Bd. 16, 77.

[32] Abrufbar auf: https://www.rferl.org/a/russia-ukraine-treason-soldiers-refusing-to-fight/31806466.html (16.04.2022).

[33] Abrufbar auf: https://www.moscowtimes.ru/2022/04/21/v-rossii-v-znak-protesta-protiv-voini-nachali-podzhigat-voenkomati-a19763 (21.04.2022).

[34] Um vor der Fussballweltmeisterschaft für Ruhe zu sorgen, wurden prophylaktisch Antifaschist:innen bedrängt, inhaftiert und gefoltert (Schläge und Elektroschocks). Das repressive Regime erzwang so falsche Geständnisse, die sogar in Bekenntnissen der Zugehörigkeiten zur Terrororganisation “Netzwerk” (auf Russisch “Сеть”) gipfelten. Diese Gruppe wurde vom russischen Geheimdienst erfunden und dient der vereinfachten Kriminalisierung und langjährigen Inhaftierung von unangenehmen Bürger:innen. Abrufbar auf: https://rupression.com/de/ (o.J.).

[35] Abrufbar auf: https://bti-project.org/de/reports/country-dashboard/RUS (2022).

Abrufbar auf: https://www.economist.com/graphic-detail/2022/02/09/a-new-low-for-global-democracy (09.02.2022).

[36] Abrufbar auf: https://www.tempestmag.org/2022/04/from-managed-democracy-to-fascism/?fbclid=IwAR0SfNlUtxqERQ8uRM8rdeMW4nD0cmKrpjqEktVkzSuz_H-h5tWMfWOg5Hg (23.03.2022).

[37] MEW Bd. 17, 556.

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