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Frankreich: Eskalation der sozialen Proteste

Nachdem der französische Präsident Emmanuel Macron am 16. März 2023 versucht hat, seine unsoziale Rentenreform mittels Anwendung des Verfassungsartikels 49.3 quasi per Dekret durchzuboxen, sind die sozialen Proteste und Streiks in ganz Frankreich eskaliert. Einige Sektoren der Arbeiter:innenklasse versuchen mittels Arbeitsniederlegungen in strategisch wichtigen Bereichen (Verkehr, Kraftstoffversorgung und Energie, Müllabfuhr sowie im öffentlichen Dienst und an den Universitäten) das Land lahmzulegen. Der Konflikt hat sich zu einer veritablen Machtprobe zwischen Bevölkerung und der neoliberalen Regierung Macrons entwickelt. Dementsprechend heftig reagieren die Polizei und ihre Sondereinheiten, die landauf, landab auf Lohnabhängige einprügeln. Heute Donnerstag, 23. März, steht die nächste Kraftprobe an: Die Gewerkschaften rufen zu einem Generalstreik auf. (Red.)

von Léon Crémieux; aus alencontre.org

Parlamentarisches Ringen

Macron und seine Regierung haben am 16. März versucht, ihr Rentengesetz[1] ohne jede Abstimmung in der Nationalversammlung durchzusetzen, indem sie Artikel 49.3 der Verfassung anwendeten – das gesetzliche “Hände-Hoch”, mit dem die Parlamentarier:innen geknebelt werden können, indem die Verabschiedung eines Gesetzes erzwungen wird, ohne dass die Abgeordneten abstimmen können!

Am 16. März, als die Streiks und Demonstrationen nach dem 7. März in mehreren Sektoren weitergingen, wollten die Macronist:innen “die Sache zu Ende bringen”. Da sie sich gegen die gesamte Gewerkschaftsbewegung stellten, mit dem Rücken zur Wand standen und im Land ultra-minoritär sind, konnten sie in der Nationalversammlung nicht einmal eine Mehrheit für diese Reform aufbauen, obwohl die Führung der konservativen LR (Les Républicains) ihre Unterstützung bekundete. Premierministerin Elisabeth Borne konnte ihr Gesetz Ende Februar in der ersten Fassung in der Versammlung nicht durchbringen. Um es am 11. März indirekt durch den Senat zu bringen, ging sie immer mehr Kompromisse mit der republikanischen Senats-Mehrheit ein (die Macronist:innen haben weniger als 100 von 349 Sitzen im Senat), um eine positive Abstimmung über Macrons Entwurf zu erreichen. In der Hoffnung, den institutionellen Weg dank der Unterstützung von Les Républicains zu Ende gehen zu können, mussten Macron und Borne am 16. März noch eine Abstimmung ohne Debatte in zweiter Lesung in beiden Kammern des Parlaments erreichen [Nationalversammlung und Senat]. Im Senat war dies eine Formalität, aber am Nachmittag in der Nationalversammlung war es eine gefährliche Übung, zur Abstimmung zu gelangen.

Macrons Fraktion verfügt dort nur über 170 Sitze, zu denen die 51 Sitze von Modem (François Bayrou) und die 29 Sitze von Horizons (Edouard Philippe) hinzukommen. Das wäre eine theoretische Gesamtzahl von 250 Stimmen, wenn die Mehrheit in der Versammlung heute bei 287 liegt. Die “präsidiale Mehrheit” ist also in der Minderheit. Nach mehrmaligem Nachzählen stellte sich heraus, dass eine Reihe von Abgeordneten der LR nicht vorhatten, der Weisung ihrer Funktionär:innen zu folgen. Les Républicains sind in der Nationalversammlung keine starke Fraktion mehr, in der die Abgeordneten ihren Sitz der von ihren Leadern erhaltenen Nominierung verdanken. Im Gegenteil: Von 2012 bis 2023 ist die Partei von 228 Abgeordneten auf 61 geschrumpft. Die Überlebenden von 2023, die häufig in ländlichen Wahlkreisen leben, verdanken ihren Sitz eher ihrem persönlichen Gewicht vor Ort als einer Partei, deren Kandidatin Valérie Pécresse bei den Präsidentschaftswahlen 4,78 % der Stimmen erhalten hatte. Diese Abgeordneten werden seit Monaten von den Wähler:innen aus dem Volk, die sich gegen die Rentenreform wehren, unter Druck gesetzt, was viel direkter ist als bei den Senator:innen, die indirekt von 160’000 «großen Wähler:innen» (hauptsächlich delegierte Parlamentarier:innen in den Gemeinden) gewählt werden. Macron und Borne brauchten die Stimmen von fast 40 LR-Abgeordneten. Offensichtlich war dies nicht garantiert, da der politische Druck durch die Mobilisierung, die Streiks und das soziale Klima der Regierungsverdrossenheit im ganzen Land so hoch ist.

Streikbewegung am Wendepunkt

Dieses Diktat des 49.3 ist seit dem 17. März zu einem starken Katalysator der Bewegung geworden. In der Woche vom 6. bis 12. März hatte die soziale Bewegung bereits einen Wendepunkt erreicht. Die Orientierung mehrerer CGT-Gewerkschaften und der Union Sud-Solidaires [beides eher radikale Gewerkschaften] ab dem 7. März überall zu einem verlängerbaren Streik aufzurufen, war in der gewerkschaftsübergreifenden Organisation Intersyndicale nicht befolgt worden, insbesondere aufgrund der Position der CFDT [gemässigte Gewerkschaft]. Der Gewerkschaftszusammenschluss Intersyndicale hatte lediglich die Parole ausgegeben, das Land am 7. März stillzulegen, und es jedem Sektor überlassen, eine Verlängerungen zu beschließen. Die nächsten von der landesweiten Intersyndikale angekündigten Termine, der 11. und der 15. März, gaben nicht den Rhythmus für eine Crescendo-Konfrontation vor, die in den am wenigsten streikenden Sektoren eine Mobilisierungsdynamik hätte erzeugen können. Generalstreiks lassen sich nicht verordnen, aber die Verlängerung vorzuziehen, hätte gerade einen progressiven Antrieb um die am weitesten fortgeschrittenen Sektoren herum ermöglichen können.

In der Praxis blieben ab dem 8. März und bis Anfang dieser Woche nur die Sektoren, die nach dem 7. März ausdrücklich zur Verlängerung aufgerufen hatten, im verlängerbaren Streik: SNCF, Straßenbau, Raffinerien, Energie. Die Streiks der Müllabfuhr, die in Paris sehr medienwirksam waren, ist mit 10’000 Tonnen nicht abgeholtem Müll fest verankert, aber auch in Nantes, Rennes, Le Havre, Saint-Brieuc, Nizza und Montpellier. Alle TotalEnergies-Raffinerien und die ExxonMobil-Raffinerie in Fos-sur-Mer, die sich im Lieferstreik befinden, beginnen trotz der Nutzung der 200 Depots, die die Tankstellen versorgen, Engpässe zu verursachen. In den kommenden Tagen könnten sich letztere noch verstärken.

Blockade des Bahnhofs in Toulouse, 22. März

Seit dem 8. März gab es jeden Tag in Dutzenden von Städten Aktionen von Aktivist:innen, Blockaden und lokale Demonstrationen. Sie stellen eine Kontinuität her zwischen den Tagen der landesweiten Aktionen und halten somit das Klima der Mobilisierung gegen diese sozial ungerechte Rentenreform aufrecht. Von daher erhielt die Abstimmung vom 16. März eine besondere Bedeutung. Die Streikbewegung schien nicht mehr in der Lage zu sein, das Projekt zu blockieren. Die Gewerkschaften selbst begannen, die Idee einer Petition für ein Referendum zu starten, was das Ende der direkten Konfrontation durch Streiks und Demonstrationen bedeutet hätte.

Artikel 49.3 als Katalysator

Das undemokratische Diktat des 49.3 gab der Mobilisierung einen unmittelbaren Schub. Einerseits verlagerte es die Zukunft der Konfrontation auf das parlamentarische Terrain, andererseits belebte es alle Straßenmobilisierungen und die Entscheidungen, Streiks aufrechtzuerhalten oder verlängerbare Streiks zu beginnen. Durch Aufrufe zahlreicher gewerkschaftsübergreifender Organisationen wie auch spontan kam es unmittelbar nach der Ankündigung des Rückgriffs auf den 49.3 zu Kundgebungen und Demonstrationen – getragen von einem Gefühl, um eine Abstimmung betrogen worden zu sein, die eine Niederlage der Regierung bedeutet hätte. Die antidemokratische Ungerechtigkeit des 49.3 kam zu der sozialen Ungerechtigkeit der Rentenreform und der sozialen Ungerechtigkeit einer galoppierenden Inflation hinzu, die jeden Tag des Monats in den Energie- und Treibstoffrechnungen sowie in den Preisen der Einkaufswagen zu spüren ist.

Wut und Zorn spiegelten sich in den Demonstrationszügen wieder, einschließlich des Zerschlagens von Straßenmobiliar, während sich Polizeigewalt, gerichtliche Anklagen und Festnahmen häuften. Am Freitag, 17. März, waren 15 Universitätsstandorte blockiert, zehntausende Jugendliche nahmen an den Demonstrationen teil, insbesondere am Place de la Concorde in Paris. Und es fanden wie am Vortag zahlreiche Demonstrationen in Dutzenden von Städten statt. Der nationale Gewerkschaftsverband Intersyndicale konnte sich durchringen und ruft nun am 23. März zu einem Generalstreik auf.

Am Donnerstag, 16. März, rechtfertigte Macron im Ministerrat den Rückgriff auf den 49.3 mit der Begründung, dass die Reform durchgesetzt werden müsse, “um das Vertrauen der Finanzmärkte in Frankreich aufrechtzuerhalten”. Einerseits will Macron die Situation dramatisieren, andererseits zeigt er dadurch in aller Öffentlichkeit, dass seine Reform nur darauf abzielt, die öffentlichen Finanzen zu stabilisieren, wie es sein Finanz- und Wirtschaftsminister Bruno Le Maire der Europäischen Kommission versprochen hatte. Die “Rettung des umlagefinanzierten Rentensystems” ist nur ein Vorwand.

Macron in der Sackgasse

Macron und seine Regierung befinden sich eindeutig am Tiefpunkt einer politischen Krise, welche das Ergebnis der sozialen Krise ist, die sie selber verschärft haben. Macron unterschätzte den Anstieg der sozialen Wut und dachte, er könne einen sozialen Grossangriff durchführen, während die unteren Schichten unter der Inflation, den steigenden Lebenshaltungskosten, dem Mangel an öffentlichen Dienstleistungen und den Kürzungen der Arbeitslosenunterstützung leiden.

Macron ging zynisch davon aus, dass gerade diese Verschlechterung der Lebensbedingungen sein bester Trumpf sein würde, um die soziale Gegenwehr gegen seinen Angriff auf die Renten zu betäuben. Er rechnete offen mit der mangelnden Koordination der sozialen Bewegung und hielt die Gewerkschaftsbewegung für unfähig, sich zu vereinen und wirklich zu handeln, um sein Vorhaben zu blockieren. Seine Ignoranz gegenüber der sozialen Realität geht Hand in Hand mit seiner Verachtung für die Arbeiter:innenklasse. Beides führt ihn heute in eine politische Sackgasse.[2]

Es gilt ein soziales Kräfteverhältnis aufzubauen, das der breiten Ablehnung von Macrons Reform in der Bevölkerung gerecht wird. Heute steht er mit dem Rücken zur Wand, eine Situation, die vor einigen Monaten noch unvorhersehbar war.


Léon Crémieux ist Aktivist der Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA). Der Text wurde am 18. März 2023 veröffentlicht. Übersetzung durch die Redaktion. Das Titelbild stammt vom 17. März.

[1] Das Gesetz sieht vor, das Rentenalter von 62 auf 64 Jahre anzuheben, die Beitragsdauer, die für eine Vollrente erforderlich ist, auf 43 Jahre zu erhöhen, sowie spezielle Rentensysteme, die sich einzelne Sektoren (Energie, Bahn u.a.) erkämpft haben, abzuschaffen. [Anm. d. Red.]

[2] Am Montag, 20. März, wurde in der Nationalversammlung über einen Misstrauensantrag abgestimmt, der die Rentenreform rückgängig gemacht und zur Neukonstituierung der Regierung geführt hätte. Es fehlten schliesslich neun Stimmen: 278 Abgeordnete von den notwendigen 287 stimmten dafür. Für die bürgerliche Presse gilt das Gesetz nun als angenommen. Es hängt nun vom Druck der Strasse und den Betrieben ab, ob Macron damit wirklich durchkommt.  [Anm. d. Red.].

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