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Ökosozialismus: Eine strategische Debatte eröffnen (Teil 4)

In diesem Herbst hat der Verlauf der Auseinandersetzung um die Klimakrise einen beunruhigenden Kurs eingeschlagen. Nach dem zynischen Ausgang der Uno-Konferenz in Glasgow kam es zu keiner angemessenen Erwiderung der Strasse. Nach bald zwei Jahren Covid-Pandemie hat die Klimabewegung ihre Dynamik verloren und es ist ungewiss, wie und wann sie wieder aktiv werden kann. Wo stehen wir heute eigentlich?

von Urs Zuppinger (BFS Lausanne)

Stand der Klimabewegung

Der aktuelle Stand der Dinge wird noch durch zwei andere, nicht minder bemerkenswerte Entwicklungen gekennzeichnet.

Zum einen hat der Kapitalismus uns einmal mehr überrascht. In Windeseile gelingt es ihm derzeit, auch als Antwort auf die Klimaproteste, die Entwicklung einer neuen Profitmaschinerie anzubahnen. Weltweit werden mit mehr oder weniger Geschick ’realistische‘, mit den bestehenden Wirtschaftsbedingungen verträgliche ‘ökologische‘ Anpassungen der Produktion und Distribution von Produktionsmitteln und Waren vorgenommen. Vor unseren Augen scheint sich damit die konkrete Möglichkeit abzuzeichnen, dank einem rasch umsetzbaren Übergang zu einem „grünen“ Kapitalismus in nützlicher Frist einen Ausweg aus der Klimakrise zu finden, der mit der Erhaltung der bestehenden Macht- und Wirtschaftsverhältnisse vereinbar ist.

Im Gleichschritt damit ist zum anderen, ausserhalb und innerhalb der Klimabewegung, das breite Lager der Anhänger:innen der Strategie der kleinen, kurzfristig umsetzbaren Schritte im Vormarsch und gleichzeitig in regem Austausch mit den Verfechter:innen des „grünen“ Kapitalismus. Diese Koalition ist bereits heute daran, unseren Alltag in konkreten Details zu verändern. Parallel dazu sind grüne Parteien weltweit damit beschäftigt, den medialen Aufschwung, den sie seit drei bis vier Jahren erfahren, auf der institutionellen Ebene zu konsolidieren und wo möglich auszuweiten.

Dass die Kombination dieser zwei Dynamiken dem radikalen Flügel in der Klimabewegung zunehmend den Wind aus dem Segel nimmt, ist eine schlechte Entschuldigung für uns Ökosozialist:innen, denn das Voranschreiten der Klimakrise betrifft uns alle. Es ist dadurch für uns noch dringender geworden, konkrete Schritte zu unternehmen, um die Wirkungskraft unserer politischen Vorschläge, Vorstösse und Stellungnahmen qualitativ zu verbessern.

Um etwas konkreter zu werden: wir müssen aus einer Situation herausfinden, in der auf der einen Seite intelligente Exponent:innen des Ökosozialismus öffentliches Echo geniessen, und auf der anderen die ökosozialistischen Organisationen fast ausnahmslos klein und zersplittert sind. Wenn wir unsere Versuche, Projekte und Forderungen konkret vorantragen, werden wir fast ausnahmslos als Utopist:innen kritisiert. Dieses Dilemma konnte übersehen werden, solange die Klimabewegung die Jugend mobilisiert hat, denn ein beträchtlicher Anteil davon war für unsere Sichtweise offen. Doch nun scheint der „pragmatische“ Teil der Bewegung die Oberhand zu gewinnen.

Dabei ist die Lage im Grunde nicht hoffnungslos, denn ein ansehnlicher Teil der durch die Klimakrise aufgerüttelten Menschen ist sich bewusst, dass eine Lösung der Klimakrise mit dem Fortbestand der kapitalistischen Produktionsverhältnisse unvereinbar ist.

Über dieses abstrakte Verständnis der Lage kommen Viele jedoch nicht hinaus, weil nichts in ihrem Lebensumfeld auch nur andeutungsweise aufzeigt, wie der Kapitalismus in nützlicher Frist überwunden und durch eine andere, naturverträgliche Lebens- und Produktionsweise ersetzt werden könnte.

Keine andere Wahl

Trotz dieser ungünstigen Ausgangslage muss es uns Ökosozialist:innen heute gelingen, innert kürzester Frist glaubwürdige, konkrete, unserem Verständnis der Lage entsprechende Strategien zu definieren, bekannt zu machen und, wenn auch nur ansatzweise, umzusetzen. Es bleibt uns keine andere Wahl.

In der auf sozialismus.ch lancierten internationalen Debatte über ökosozialistische Perspektiven scheinen mir drei Aufgaben besonders zentral, die in meiner Auseinandersetzung mit Christian Zeller aufgeworfen worden sind.

1. Der Aufbau einer internationalen ökosozialistischen Strömung

Christian Zeller hat in seinem Beitrag am 25. Juni 2021 den Vorschlag gemacht, eine „programmatisch klare und aktionsfähige internationale Strömung“ aufzubauen. Er hat seine Vorstellungen darüber in der Artikelserie „Ökosozialistische Strategien im Anthropozän“, die im Herbst 2021 erschienen ist, methodisch weiterentwickelt. Er wies darauf hin, dass die Mobilisierungen, die im Herbst 2021 gegen die internationale Automobilausstellung in München sowie im Umfeld der Weltklimakonferenz Anfang November 2021 in Glasgow geplant waren, positive Umstände schaffen könnten, um hier substantielle Fortschritte zu machen. Was dann geschah, hat seinen Erwartungen nicht entsprochen. Die Notwendigkeit bleibt, ohne Verzug auf internationaler Ebene den Aufbau einer ökosozialistischen Strömung in Angriff zu nehmen.

2. Die Entwicklung, Propagierung und Umsetzung von Forderungen und Massnahmen, die sowohl bei Bedürfnissen der Lohnabhängigen ansetzen als auch die bestehenden Gesellschafts- und Produktionsverhältnisse in Frage stellen

Christian Hofmann fordert in seinem am 29. September 2021 veröffentlichen Beitrag, dass wir Ökosozialist:innen ein Programm von Forderungen und Massnahmen entwickeln und vorantragen sollten, das „sofort umsetzbar“ ist und „trotzdem eine echte Stoßrichtung zu einem revolutionären Bruch mit dieser Eigentumsordnung“ hat. Er hat in diesem Sinn zusammen mit anderen Forderungen aus der Bewegung in Deutschland gesammelt, und dann diejenigen herausgestellt, die „in ihrer Umsetzung sowohl echte Auswirkungen bezüglich CO2-Reduzierung hätten, als auch nicht auf dem Rücken der Lohnabhängigen ausgetragen und dadurch zwangsläufig das bürgerliche Eigentum angreifen“ würden.

Diese Methodik muss hinterfragt und vertieft werden. Ich leite aus diesem Vorschlag ab, dass wir Ökosozialist:innen heute, als zweite Achse einer uns geographisch möglichst weitläufig vereinigenden Strategie, Antworten auf die Frage der Forderungen ausarbeiten und im Rahmen der Beteiligung an konkreten Kämpfen auf die Probe stellen sollten. Diese Forderungen sollten konkreten, aktuellen Fragestellungen entsprechen und sich von den Forderungen der Verteidiger:innen der Strategie der kleinen Schritte sowie den Vorstössen des „grünen“ Kapitalismus klar unterscheiden.

Diese Aufgabe wird sich je nach nationalem oder lokalem Umfeld und je nach Stand der Konflikte und Debatten anders stellen. Die ökosozialistische Strömung, die es aufzubauen gilt, sollte sich meiner Ansicht nach zum Ziel setzen, hier im Rahmen einer breit angelegten Diskussion eine Methodik zu entwickeln, die es ihr erlaubt, diese Forderungen aufzustellen und sich dabei gleichzeitig gegenseitig zu stärken, im Austausch zwischen lokalen und regionalen Interventionen und Vorstössen auf der internationalen Ebene.

3. Die Suche und Umsetzung von konkreten Wegen, um die soziale Verankerung der Klimabewegung voranzutreiben

Ich hatte in meinem Beitrag vom 3. Januar 2021 auf das Folgende hingewiesen: Christian Zeller führt uns in seinem Buch „Revolution für das Klima“ zwar auf eindringliche Weise vor Augen, welchen Typ und Grad der sozialen Verankerung und Mobilisierung die Klimabewegung erreichen müsste, damit der Übergang zum Ökosozialismus zur konkreten politischen Perspektive wird. Er hat danach auf überzeugende Weise nachgewiesen, dass der heutige Stand der Organisation und des Bewusstseins der lohnabhängigen Klasse diesen Anforderungen in keiner Weise entspricht. Er ist uns danach jedoch eine überzeugende Antwort auf die Frage schuldig geblieben, wie diese schwierige Ausgangslage in nützlicher Frist überwunden werden könnte. In seinem Beitrag vom 25. Juni 2021 ist Christian Zeller dann auf diese Kritik eingegangen und hat eine reiche Palette von stimulierenden Zusatzüberlegungen entwickelt.

In meiner Kritik am Buch von Christian Zeller vom 3. Januar 2021 hatte ich in Bezug auf die von ihm überzeugend dargestellte Notwendigkeit, die soziale Verankerung der Klimabewegung kurzfristig zu verbessern, die Behauptung aufgestellt, dass sich eine Antwort auf diese Frage nur aus der sozialen Praxis ergeben könne, und davon ausgehend, als unmittelbare Aktionsperspektive und mögliches praktisches Übungsgebiet, die Idee entwickelt, dass der Zwang der Berufswahl, dem die Jugendlichen der Klimabewegung ausgesetzt sind, einen möglichen Ansatzpunkt darstellen könnte, um in dieser Sache kurzfristig erfolgsversprechende Erfahrungen zu sammeln. Christian Hofmann hat meinen Einfall als Unsinn abgetan.

Einverstanden, dass es in der Frage der Berufswahl und der Verankerung der Klimabewegung in der Arbeitswelt (wie auch in denjenigen, die Christian Zeller und Christian Hoffmann aufgeworfen und entwickelt haben), noch ungemein viel zu klären gibt. Fortschritte werden jedoch nur erreicht werden können, wenn es uns gelingt, diese und andere vergleichbaren Auseinandersetzungen innert kürzester Frist aktiv weiterzuführen, im Verlauf von konkreten sozialen und politischen Auseinandersetzungen zu vertiefen, sozial zu verankern und geographisch auszudehnen.

Die Zeit fürs Zögern ist vorbei

Die oben präsentierte Aufgabenliste ist natürlich nicht abschliessend. Entscheidend ist meiner Ansicht nach, dass wir Ökosozialist:innen heute in diesen und anderen vergleichbar wichtigen Bereichen kurzfristig die Arbeit machen – und zwar nicht nur auf Diskursebene und auf dem Papier, sondern anlässlich von konkreten, sozialen Auseinandersetzungen.

Die Überwindung der Schwierigkeiten, mit denen wir konfrontiert sind, wird nur möglich sein, wenn es uns gelingt, den politischen Diskurs durch praktische Erfahrung zu befruchten und einen Austausch darüber auf internationaler Ebene hinzubringen. Das strategische Projekt des Ökosozialismus wird sich nur über diesen Weg qualitativ verbessern lassen. In Anbetracht der bestehenden Lage sind die Chancen auf Erfolge zwar beschränkt; ich sehe jedoch keinen anderen Weg.

Immerhin ist Ökosozialismus heute ein wiederkehrendes Thema von politischen Konferenzen. Das Andere Davos, das am 14. und 15. Januar 2022 auf Zoom stattfindet, ist dem Thema „Ökosozialistische Strategien entwickeln“ gewidmet. Meine Hoffnung ist, dass sich davon ausgehend eine Perspektive eröffnet, die es erlauben wird, in den kommenden Monaten bei der Weiterentwicklung und konkreten Umsetzung der in diesem Rahmen andiskutierten Vorstellungen konkret qualitative Fortschritte zu machen.

Wenn die hier skizzierten Überlegungen bei dieser Gelegenheit eine Diskussion auslösen würden, aus der sich eine konkrete Aktionsperspektive für das weitere Vorgehen ergibt, wäre das Ziel, das ich damit verfolgt habe, erreicht.

Der Beitrag wurde am 18. Dezember 2021 verfasst. Die weiteren Teile der Debatte finden sich hier: Teil 1 (Urs Zuppinger), Teil 2 (Christian Zeller) und Teil 3 (Christian Hofmann).

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