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Israel: Vom Protest gegen die Justizreform zum Widerstand gegen den Krieg

Nun schon seit mehr als sechs Monaten führt der israelische Staat einen Krieg gegen die Bevölkerung Gazas. Gegen das unvorstellbare Leid der palästinensischen Bevölkerung, wird weltweit protestiert, mittlerweile auch an Schweizer Unis. Gleichzeitig werden Proteste massiv kriminalisiert. Insbesondere Teile der deutschsprachigen Linken verweigern den Palästinenser:innen ihre Solidarität. Die israelische Linke wird derweil selten nach ihrer Analyse gefragt. Wir haben ein Interview geführt mit dem jungen Kollektiv Radical Bloc, das sich in Tel Aviv gegen den Krieg und die Besatzung organisiert: ein Gespräch über Krieg, Terror, Zionismus und Antisemitismus. Das Interview wurde Mitte März per Email und auf Englisch geführt.

Von Ben Huber, Claus Carla (BFS Basel) und Max Arendt (BFS Zürich)

Antikap: Könnt ihr euch kurz vorstellen und erklären, wie eure Gruppe entstanden ist, wie ihr euch organisiert und was eure Anliegen sind?

Radical Bloc: Wir sind ein Basiskollektiv. Ursprünglich haben wir uns im Zuge der Proteste in Israel gegen die Justizreform gebildet, um kompromisslose Solidarität und Werte für die vollständige palästinensische Befreiung und regional Gleichberechtigung zu vertreten. Bei den grösseren Protesten gab es jeweils einen kleinen «Anti-Occupation»-Block, wo sich wöchentlich Menschen versammelten, die die Besatzung als Grundursache für das «demokratische Scheitern» betrachteten. Diese Menschen waren weder unbedingt antizionistisch, noch sahen alle Gerechtigkeit oder ein befreites Palästina als Lösung. Sie waren einfach Gegner:innen der Besetzung des Westjordanlandes.

Wir waren auf der Suche nach einer Gemeinschaft, die unsere Werte und Meinungen vereint. Nämlich eine klare, kompromisslose Haltung gegen Israel und den Zionismus als siedlerkoloniales Projekt sowie für die gerechte Befreiung des palästinensischen Volkes.Wir sind überwiegend jüdische Menschen, aber weder explizit noch ausschliesslich. Viele unserer Mitglieder sind im Westjordanland und in den sozialen palästinensischen Kämpfen innerhalb der Grenzen von 1948 aktiv und arbeiten für Menschenrechts- und Bildungsorganisationen wie Zochrot oder This Is Not An Ulpan.

Wir sind ein eher junges Kollektiv und haben noch keine definierte strategische Leitlinie, da wir ständig unseren Platz in unserer faschistischen Gesellschaft finden müssen. Unsere Auswahl an Partnern ist sehr begrenzt, da viele «Friedens»-Organisationen das Grundproblem nicht (an)erkennen: den Zionismus. Viele vermeiden es, sich in den Diskurs darum einzubringen, was Frieden wirklich bedeutet, und über Gerechtigkeit oder das Recht auf Rückkehr zu sprechen. Diese sogenannten «Friedens»-Gruppen erkennen die rassistische Idee der ethnifizierten Herrschaft nicht an, die im Kern des jüdischen Staates und des Zionismus steht. Bislang arbeiten wir mit Free Jerusalem, Mesarvot, New Profile, Academia for Equality, ATL und anderen zusammen.

«Unser Ziel ist es, uns dem System der ethnischen Herrschaft und ethnisch begründeten Unterdrückung zu widersetzen, indem wir als Israelis unsere Unterstützung für den palästinensischen Befreiungskampf zum Ausdruck bringen.»

Wir müssen uns noch entscheiden, was unsere dringenden Forderungen sind. Aber grundsätzlich stehen wir für ein freies Palästina und eine gerechte Befreiung ein, was bedeutet, dass palästinensische Vertreter:innen die Befreiungsrevolution anführen und über deren Bedingungen entscheiden sollen. Wir glauben an einen alle umfassenden demokratischen Staat, das Recht auf Rückkehr für alle palästinensischen Geflüchteten und die Rückgabe palästinensischen Landes an die rechtmässigen Eigentümer:innen. Nicht zuletzt fordern wir die Anerkennung der Nakba. Es braucht Massnahmen und Entschädigungen, um die ökonomische und kulturelle Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft durch den israelischen Staat zurückzuversetzen.

Da wir ein sehr kleines Kollektiv sind, sind unsere Handlungsmöglichkeiten sehr begrenzt. Als Gruppe planen wir unsere eigenen Proteste, Mahnwachen und Aktionen und schliessen uns auf Einladung anderen Gruppen an, um mit ihnen zu protestieren. Wir haben auch damit begonnen, Bildungsworkshops für die Öffentlichkeit durchzuführen. Unser Ziel ist es, uns dem System der ethnischen Herrschaft und ethnisch begründeten Unterdrückung zu widersetzen, indem wir als Israelis unsere Unterstützung für den palästinensischen Befreiungskampf zum Ausdruck bringen. Wir wollen dazu beitragen, diesen Kampf zu einem weltweiten Konsens zu machen und Israelis mit der Idee der Gleichheit und Gerechtigkeit für alle Menschen vertraut zu machen.

Ihr habt euch ja als Gruppe gegen die Justizreform gefunden. Was hat sich für euch nach dem 7. Oktober 2023 geändert und wie reagiert die Öffentlichkeit auf eure Proteste? Habt ihr Überschneidungen mit der Bewegung zur Freilassung der Geiseln?

Nach dem 7. Oktober wurden wir viel stärker und besser organisiert. Wir fingen an, eigene Aktionen zu organisieren, anstatt uns grösseren Gruppen anzuschliessen, wo wir Kompromisse hinsichtlich unserer Botschaften eingehen mussten. Wir haben eigene Profile in den sozialen Medien eröffnet und konnten so unsere Stimme weiter verbreiten. Wir waren so viel mehr Gewalt, Doxxing[1] und Polizeibrutalität ausgesetzt. Doch wir wissen, dass dies alles Anzeichen dafür sind, dass wir die Wahrheit sagen und Ideen vertreten, die sie beseitigen wollen.

Aus der breiten Öffentlichkeit erfahren wir Hass für unsere Proteste. Wir werden in der Regel als Verräter:innen und Terrorunterstützer:innen angesehen. Es ist wichtig festzuhalten, dass wir in Tel Aviv protestieren, dem eigentlich «liberalsten» und «tolerantesten» Ort für unsere Proteste (in der jüdischen Gemeinschaft). An anderen Orten würde unserem Protest noch extremere Gewalt entgegenschlagen. Unsere Genoss:innen in Jerusalem erleben zum Beispiel eine grössere Brutalität sowohl seitens der Öffentlichkeit als auch der Polizei.

Was den Genozid in Gaza anbelangt – wir wünschten, wir könnten noch viel mehr tun. Wir versuchen, uns nicht davon entmutigen zu lassen, wie wenig Macht wir als so kleines Kollektiv haben. Wir tun unser Möglichstes. Aber es ist auch klar, dass direktere Aktionen, wie an die Grenze zu Gaza zu gehen, nur zu extremer Gewalt gegen uns führen würde, was unseren kollektiven Aktionen ein Ende bereiten würde.

Als Kollektiv haben wir nichts mit der Bewegung der Familien der Geiseln zu tun, aber einige unserer Aktivist:innen beteiligen sich individuell an deren Protesten. Einzeln und als Kollektiv fordern wir die Freilassung aller Gefangenen – der Tausenden Palästinenser:innen, die vor dem 7. Oktober von den israelischen Besatzungstruppen entführt und festgehalten wurden, der 134 Israelis, die am 7. Oktober entführt wurden und immer noch von der Hamas festgehalten werden, und der Tausenden weiteren Palästinenser:innen, die seit dem 7. Oktober entführt wurden.

Wie analysiert ihr denn den Krieg, den Israel gegenwärtig gegen die palästinensische Bevölkerung führt? Und wie bewertet ihr den bewaffneten Kampf der Palästinenser:innen?

Die Analyse des aktuellen Feldzugs, der zweifellos der brutalste in der Geschichte des israelischen Staates ist, würden wir lieber Expert:innen überlassen. Allerdings lehnen wir die genozidale Absicht der israelischen Führung, Medien, Soldat:innen und Gesellschaft ab, die sich sowohl in Worten als auch in Taten ausdrückt und darauf abzielt, die palästinensische Gesellschaft und Präsenz in Gaza auszulöschen. Wir sind nicht nur gegen die Angriffe auf Zivilist:innen und zivile Infrastruktur, um Druck auf die palästinensische Führung auszuüben – was der eigentlichen Definition von Terrorismus entspricht. Wir lehnen Gewalt als Mittel zur Förderung kolonialer Herrschaft und Macht grundsätzlich ab.

Um uns herum erfahren wir einen unglaublichen Blutdurst und eine Entmenschlichung, wie wir sie noch nie zuvor gesehen haben. Natürlich wissen wir, dass sie schon seit langer Zeit existiert und nur darauf gewartet hat, auszubrechen. Die apathischen, grausamen Ideen und Perspektiven, die in der israelischen Gesellschaft während dieses Völkermords erkennbar sind, sind nicht neu. Sie existierten schon immer und leiten sich direkt aus dem Wesen des Zionismus ab.

Zum bewaffneten palästinensischen Widerstand vertreten wir keine kollektive Meinung. Aufgrund des gesellschaftlichen und politischen Klimas ist es uns auch individuell nicht möglich, eine Meinung zu diesem Thema zu äussern.

Allerdings kennen und anerkennen wir die Resolution der UNO-Generalversammlung vom November 1983 . Die Resolution bekräftigt «die Legitimität des Kampfes der Völker für ihre Unabhängigkeit, territoriale Integrität, nationale Einheit und Befreiung von Kolonialherrschaft, Apartheid und ausländischer Besatzung mit allen verfügbaren Mitteln, einschliesslich dem bewaffnetem Kampf».[2]

Wir würden gerne noch mehr auf die politischen Verhältnisse in Israel eingehen. Könnt ihr uns erklären, wie der globale wiedererstarkende Antisemitismus in der israelischen Gesellschaft diskutiert wird?

In Israel selbst wird der globale Antisemitismus auf zwei Arten diskutiert: Einerseits wird Antisemitismus mehr oder weniger mit Antizionismus gleichgesetzt. So werden alle antizionistischen Ideen, Handlungen und Kommentare als antisemitisch verstanden. Indem antiisraelisch mit antisemitisch gleichgesetzt wird, wird die Debatte komplett verschoben; die Bedeutung und die Werte des Antisemitismusbegriffs werden verändert und herabgesetzt.

Andererseits wird Antisemitismus in Bezug zur Rechtfertigung des siedlerkolonialen Projekts Israels diskutiert. Antisemitismus wird nicht in den Kontext gesetzt zum globalen Aufstieg des Faschismus, der insbesondere muslimische und arabische Menschen sowie People of Color verfolgt. Die Diskussionen sind nicht vergleichbar mit dem breiteren Diskurs um die Gefahren von Rassismus insgesamt, der in linken sozialen Bewegungen weltweit geführt wird. Die Art, wie hier über Antisemitismus diskutiert wird, dient der Legitimation israelischer Kriegsverbrechen – immer und immer wieder.

«Es scheint, als ob Israel sich nicht nur keine wirklichen Sorgen über echten Antisemitismus macht, sondern sogar von dessen Auftreten profitiert.»

Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt haben seit Jahrzehnten darauf hingewiesen, dass Israels Handlungen Antisemitismus befeuern. Aber weil diese Position dem zionistischen Narrativ nicht entspricht, wird sie aus der Diskussion gänzlich ausgeschlossen.

Antisemitismus ist allerdings kein alltägliches Gesprächsthema in Israel, sondern wird fast ausschliesslich dann zum Thema, wenn es darum geht, die Existenz Israels und seine Kriegsverbrechen zu rechtfertigen. Es scheint, als ob Israel sich nicht nur keine Sorgen über echten Antisemitismus macht, sondern sogar davon profitiert.

Im aktuellen Genozid wird der Vorwurf des Antisemitismus als Instrument genutzt, um jegliche Kritik an Israel abzuwehren. Die israelische Öffentlichkeit hat zu glauben gelernt, dass selbst ein Aufruf zu einem Waffenstillstand antisemitisch sei. Das ist keine Übertreibung – mehrfach haben israelische Medien, Politiker:innen und öffentliche Persönlichkeiten die Forderung nach einem Waffenstillstand als «antisemitisch» bezeichnet, selbst wenn sie von jüdischen Israelis geäussert wurde. Die israelische Öffentlichkeit wird somit gegen jegliches kritisches Denken in Bezug auf die Handlungen Israels immunisiert. Jeder Kommentar, jede Behauptung wird sofort als antisemitisch eingestuft, anstatt sich damit auseinanderzusetzen und die Handlungen Israels zu hinterfragen. Die Öffentlichkeit wird konditioniert zu glauben, dass jede Kritik «antisemitisch» und damit ein Versuch sei, Israel zu «diffamieren».

Prognosen sind immer schwierig. Dennoch: Was denkt ihr kommt nach dem Ende des Krieges und was geschieht mit Benjamin Netanjahu?

Wir wissen weder, wann das endet, noch wie «das Ende» aussehen wird. Wir erleben ein Allzeithoch des Nationalismus und gehen davon aus, dass er sich noch verstärken wird, bis externe Kräfte beginnen, starken Druck auf den Staat Israel auszuüben.

Über Netanjahu wird viel geredet. Wir glauben nicht, dass er das Problem ist – er ist ein Nebeneffekt der israelischen Gesellschaft. Alle anderen infrage kommenden, alternativen politischen Führer hätten genauso gehandelt. Vielleicht nicht im selben Ausmass, aber wir glauben, sie hätten den gleichen Weg eingeschlagen. In Israel gibt es keine demokratische Alternative. Wer auch immer nach Netanyahu kommt, wird nicht bereit sein, die israelische Gesellschaft zu verbessern, konkrete Massnahmen zur «Friedensstiftung» zu ergreifen oder mehr Sicherheit für das Land zu schaffen. Wir möchten daran erinnern, dass die sogenannte «Change»-Koalition, die vor Netanjahus Rückkehr an der Macht war, als gemässigter galt. Und dennoch war das tödlichste Jahr für die Palästinenser:innen im Westjordanland seit 2005 während ihrer Regierungszeit – vor dem aktuellen Genozid und den aktuellen Anschlägen. Das System ist in seiner Struktur undemokratisch und eine Fortsetzung von Unterdrückung und Zerstörung ist ihm inhärent.

Gibt es noch linke Hoffnungen in der israelischen Gesellschaft?

Es gab nie eine «israelische Linke» mit erheblicher gesellschaftlicher Relevanz, die sich für die Gleichberechtigung aller Bewohner:innen des Landes einsetzte – was eigentlich ein Minimalstandard für Demokrat:innen sein sollte, auch wenn sie nicht unbedingt links sind. Die sogenannte «israelische Linke» war jedoch für die ethnische Säuberung von 1948 und die Beseitigung der palästinensischen Bevölkerung von 78% der Fläche Palästinas verantwortlich. Es gibt einige, die sich zwar selbst als «Linke» bezeichnen, aber bloss innersystemische Veränderungen anstreben. Sie stellen sich nicht den realen Umständen, die eine Zerschlagung des System insgesamt erfordern würde. Zu den wirklichen (anti-zionistischen) Linken zählen in Israel ein paar wenige, verstreute Tausende.

Zum Schluss: Was wäre eure Botschaft an die westeuropäische Linke?

Unsere Botschaft lautet: Es gibt keine Erlösung von innen heraus. Israel und der Zionismus sind eine Einbahnstrasse, die uns, wie wir sehen, nur in die völlige Zerstörung führen kann und wird. Israel und die israelische Gesellschaft sind auf Rassismus, Nationalismus, Unterdrückung und Militarismus aufgebaut – das sind ihre Bausteine. Solange kein Druck auf Israel und die israelische Gesellschaft ausgeübt wird, werden diejenigen, die in diesem System aufgewachsen sind und davon profitieren, immer daran arbeiten, es aufrechtzuerhalten. Dies stellt angesichts des neuen technologischen Monopols Israels und seiner unerbittlichen, reichen Lobbys in den USA und anderen westlichen Ländern eine grössere Herausforderung dar als je zuvor.

Wir bitten euch, starke, solide und langfristige Boykottbewegungen aufzubauen, die sich für die Zerschlagung der zionistischen Kräfte in euren Ländern einsetzen. Wir bitten euch, in euren Gesellschaften zu mobilisieren, Strategien zu entwickeln und diese konsequent umzusetzen, um die Herrschenden unter Druck zu setzen, ihre Politik gegenüber Israel zu ändern, mit der Absicht, es schliesslich vollständig zu sanktionieren. Wir bitten euch, euren Aktivismus auch dann fortzusetzen, wenn der Waffenstillstand gilt. Denn es wird passieren und Palästina wird nicht mehr unbedingt in den Schlagzeilen sein, aber es wird immer noch nicht frei sein und die Palästinenser:innen werden weiterhin leiden.


[1]    Doxxing nennt man das Veröffentlichen privater Daten im Internet, um Betroffene mundtot zu machen.

[2]    UNO Resolution A/RES/38/17 vom 22.11.1983

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