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«Wir stellen uns auf das Schlimmste ein.» Miese Arbeitsbedingungen bei der Schweizerischen Post

Die Mitarbeiter:innen der Schweizerischen Post sind am Ende ihrer Kräfte. Die Pandemie verschärft die Intensivierung der Arbeit, die wiederum eine Folge der seit zwei Jahrzehnten stattfinden sukzessiven Umstrukturierungen ist. Hintergrund ist die Umwandlung des öffentlichen Postdienstes in einen profitablen Geschäftsanbieter – nach dem Vorbild von Amazon oder Uber. Die Geschichte von Adrien, einem Postboten in einer Stadt in der französischsprachigen Schweiz.

von Adrien; aus Service Publics

In den letzten Wochen wurde in den Medien viel über die Millionen von Paketen gesprochen, die am Black Friday und dann an Weihnachten ausgeliefert wurden. Aber für uns ist schon seit März Weihnachten. Mit der Pandemie ist die Arbeitsbelastung explodiert. Diejenigen, die einen 80%-Arbeitsvertrag haben, arbeiten zu 100%. Diejenigen, die 100% angestellt sind, arbeiten 120%. Wir erleiden in der Tat eine massive Verlängerung unserer Arbeitszeit, ohne zu wissen, wann wir unsere Stunden zurückbekommen; und das alles bei gleichem Gehalt.

Die Pandemie verschärft die ohnehin angespannte Situation. In den letzten Jahren haben sich unsere Arbeitsbedingungen durch Umstrukturierungen verschlechtert. Seit März steht uns das Wasser bis zum Hals. 

Strukturelle Veränderungen

Unsere Branche befindet sich im Strukturwandel: Die Zahl der Briefe nimmt stetig ab – 25 % weniger zwischen 2009 und 2019. Die Zahl der Pakete hingegen ist stark gestiegen – 108 Millionen gegenüber 148 Millionen zehn Jahre später. Der massive Einsatz von Homeoffice und Semi-Lockdows hat damit einen bereits bestehenden Trend explodieren lassen: Im April 2020 wurden 17,3 Millionen Pakete zugestellt, im Dezember 2020 19,8 Millionen. Um diese Welle zu bewältigen, werden immer mehr Pakete auf Briefzusteller übertragen. Und das, obwohl wir bereits täglich fast 100.000 Päckchen im ganzen Land ausliefern, hauptsächlich aus China. 

Doch die Zahl der Vollzeitstellen in der Briefsortierung und -zustellung wurde reduziert – von 18.000 auf 14.000 “Vollzeitäquivalente” zwischen 2012 und 2019. Die tatsächliche Zahl der Beschäftigten ist zwar weniger stark gesunken (von 26’200 auf 25’500), dies spiegelt aber nur den Anstieg der Teilzeitstellen wider. Einerseits werden immer weniger 100%-Verträge angeboten, andererseits versuchen viele, die Notlage mit einem Teilzeitvertrag auszugleichen. 

Erweiterte Touren

Neben dem Personalabbau hat das Management der Post unsere Routen erweitert und die Anzahl der Teams reduziert. In den neuen Teams sind die Briefträger:innen verpflichtet, die Strecken mehrerer Runden zu kennen und einzuüben. Dieses neue Modell sprengt die alte Regelung, bei der ein:e Briefträger:in nach den ersten Jahren immer die gleiche Tour machte – wodurch er oder sie besondere Beziehungen zu bestimmten Nutzer:innen aufbauen konnte.

Diese Entwicklung erlaubt es dem Management auch, im Falle von Urlaub oder Krankheit eines Postboten, Kolleg:innen zu verpflichten, Teile der Tour des abwesenden Postboten zu übernehmen, nachdem er seine Tour beendet hat. Diese seit Anfang des Jahres angewandte Praxis führt zu einer starken Verlängerung der Arbeitstage. 

Das Ende der «Damen der Sortierung»

Vor einigen Jahren wurden neue Sortiermaschinen installiert, fast 85% der Post kommen nun in Kisten an und werden in der Reihenfolge der Tour sortiert. Das hat dazu geführt, dass die Mitarbeiter:innen, die früher um 4 Uhr morgens Briefe sortiert haben, nicht mehr da sind. Jetzt sind es die Briefträger:innen, die die restlichen Briefe – A- und B-Post – sortieren, bevor sie ihre Runden drehen. Wo früher gegen 12 Uhr Schluss war, ist jetzt um 13 oder gar 14 Uhr Schluss, vor allem dienstags, wenn das Coop-Wochenmagazin oft 400 Gramm pro Exemplar wiegt (rechnen Sie mal nach, wenn eine Runde 700 oder 800 Exemplare zählt).

Das kontrollierende Auge des Scanners

Alle unsere Aktivitäten werden unter der Kontrolle des “Scannens” durchgeführt. Mit einem Mobiltelefon müssen wir eingeschriebenen Briefe, Pakete und Kleinwaren scannen – bei der Zustellung, aber auch beim Empfang.

Jeder Schritt in unserem Arbeitsprozess – Ankunft, Abfahrt auf Tour, Pausen, Abholung usw. – wird ebenfalls vom Scanner erfasst. Auch in den Pausen sind wir mit diesem Gerät belastet. Manchmal gibt uns das Mobiltelefon sogar “Befehle” und sagt uns automatisch, was wir im Laufe des Tages tun sollen. Durch das Scannen weiß der/die Benutzer:in auch, wann sein Paket ankommen wird, was den Druck auf unsere Schultern erhöht.

Alles ist also getaktet, so knapp wie möglich kalkuliert. So kann das Management den Zeitüberschreitungen nachgehen. Auf Basis der so gesammelten Daten wurde unter anderem ein Benchmarking-System aufgebaut: Es stellt Mitarbeiter:innen und Teams anhand von vermeintlich rationalen Kriterien, anhand von Leistungsvergleichstabellen, in einen Wettbewerb. All das erhöht den Druck auf die Kolleg:innen – aber auch auf ihre Abteilung.

Mehr und mehr Aufgaben…

Während das Briefpostaufkommen sinkt, nimmt die Anzahl der durchgeführten Aufgaben sogar zu. Neben dem Transport von Paketen liefern wir auch kleine, preiswerte Waren. Auch die Anzahl der Werbungen ist explodiert.

Ziel der Post ist es, die Zahl der Innovationen, die sich finanziell lohnen, zu erhöhen. Wir übernehmen für Zalando Paketrücksendungen, holen Nespresso-Kapseln ab, Verpackungen für Bio-Obst und -Gemüse. Die Brotlieferung, in Partnerschaft mit der Bäckereikette Pouly, wurde gerade in der französischen Schweiz eingeführt. Wir beginnen auch Pet-Flaschen zu sammeln.

Früher sind wir nur zwei- bis dreimal pro Woche mit unseren Anhängern gefahren. Jetzt werden sie täglich eingesetzt. Aber unsere Fahrzeuge sind nicht dafür ausgelegt, eine große Anzahl von Paketen zu transportieren, vor allem wenn sie sperrig sind. Manche Leute verlassen das Depot mit überfüllten Anhängern. Ich fürchte, das wird zu Unfällen führen. Anstatt die Gesamtbelastung zu reduzieren und die neuesten Entwicklungen zu berücksichtigen, um gute Arbeitsbedingungen zu gewährleisten, begnügt sich das Management mit der Überlegung, uns sogenannte Exoskelette [Maschinen zur körperlichen Stabilisierung; Anm. d. Red.] tragen zu lassen, wie bei Swissport und Amazon. 

Die Geburt der Uber-Post

Unser Geschäft befindet sich in einem beschleunigten Wandel. Gewinnbringende Tätigkeiten werden ausgeweitet, gemeinnützige Tätigkeiten verschwinden. Wir sehen mehr und mehr aus wie Zusteller, wie die Uber-Post.

Wir gehen nicht mehr nach oben, um Pakete auszuliefern, einzuschreiben oder um zu bezahlen. Manchmal ist der Druck so groß, dass die Kolleg:innen nicht einmal mehr klingeln, um ihre Anwesenheit anzuzeigen, sondern den Zettel einfach im Briefkasten lassen. 

Mit dem System der langen und wechselnden Routen wird die Verbindung zwischen Postbot:innen und Nutzer:innen immer angespannter. Die kleinen Arrangements, die auf gegenseitigem Wissen basierenden Dienstleistungen verschwinden allmählich. Postfächer sind kostenpflichtig geworden, ihre Zahl hat abgenommen; die Preise für Adressänderungen sind explodiert. 

Hinzu kommen die Schließungen von Poststellen, die in die Migros, Apotheken oder Lebensmittelgeschäfte verlegt wurden. Die eilig angelernten Kassierer:innen werden für diese oft unter prekären Bedingungen geleistete Mehrarbeit nicht mehr bezahlt.  Diese Auslagerung geht Hand in Hand mit einer Verschlechterung des Service für die Benutzer:innen.

Intensivierte Arbeit

Als ich in der Branche anfing, mussten wir einen unhandlichen Wagen ziehen. Die DXPs, die dreirädrigen Fahrzeuge, die wir heute benutzen, bedeuteten also eine Verringerung der körperlichen Belastung bei der Arbeit. Aber heute, zwischen den zuzustellenden Briefen, Paketen, Zeitungen und Anzeigen, erhöht sich die Belastung wieder.

Denn die Intensität der Arbeit hat in den letzten Jahren stetig zugenommen: Die Aufgaben vervielfachen sich, man muss an viel mehr Dinge denken, der Zeitdruck ist allgegenwärtig und alles wird unter dem Druck des Scanners erledigt. Und heute wird von einem 55-jährigen Postbeamten das gleiche Arbeitstempo erwartet wie von einer 20-Jährigen – während in der Vergangenheit die Länge ihrer Runden schrittweise reduziert wurde.

Nackt vor Covid-19

Wir arbeiten draußen, bei jedem Wetter, auch samstags. Während der Pandemie sind wir weiter auf Tour gegangen. Allerdings waren die Bistros geschlossen und nichts war so eingerichtet, dass wir während der Tour zur Toilette gehen oder uns aufwärmen konnten. In letzter Zeit wurde viel über die Notwendigkeit diskutiert, dass Skifahrer:innen ihr Brote an einem warmen Ort essen können. Aber es gab keinen Moment, in dem es um unsere Situation oder die der Menschen ging, die gezwungen sind, draußen zu arbeiten.

Bei der Post gibt es einen großen Unterschied zwischen der ersten und zweiten Welle von Covid-19. Im Frühjahr konnten viele “gefährdete” Kolleg:innen mehrere Wochen zu Hause bleiben, während sie ihr Gehalt erhielten. Heute sind alle am Arbeiten. Bei den Schutzmaßnahmen handelt es sich um eine Mindestleistung. In der Halle des Postamtes sollen wir seit September die Maske tragen. Das Management hat uns zwei- oder dreimal Masken gegeben. Im Büro befinden sich Desinfektionsmittelfläschchen für die Teams. Aber das Unternehmen bietet keine individuellen Fläschchen auf dem Scooter an. Wir erhalten keine Informationen über die Anzahl der Infektionen im Unternehmen, Quarantänen usw. Es ist alles sehr unklar.

Abwesende Gewerkschaften

Morgens, wenn wir zur Arbeit kommen, sehen wir, dass unsere Kolleg:innen müde sind, körperlich und geistig. Wir können die Schnauze voll haben, aber im Moment gibt es keinen kollektiven Widerstand, nicht mal eine Debatte unter uns zu diesem Thema. Die Gewerkschaften in der Branche haben keinen wirklichen Rückhalt in unserem Betrieb, sie sind in der Regel abwesend. Außerdem haben die Managements der Gewerkschaften alle Umstrukturierungen befürwortet. Intern hat das Management von der Post das Terrain besetzt, auf dem sich gewerkschaftliche Initiativen hätten entwickeln können, indem es “Qualitätszirkel” oder Gesundheitszirkel unter seiner Kontrolle eingerichtet hat. Auch das Benchmarking hat die Gräben vertieft. 

«Wir stellen uns auf das Schlimmste ein»

Heute, mit der Pandemie, scheint es mir, dass es eine Form der Anpassung an das Schlimmste gibt. Jeder weiß, dass der Tag manchmal gegen 16 Uhr oder noch später endet und am nächsten Tag um 6 Uhr morgens wiederbeginnt. Das ist zur Norm geworden.

Auch die Prekarität hat zugenommen. Die Post stellt viele Zeitarbeiter:innen ein und schließt Verträge mit variablen Arbeitszeiten ab. In den letzten Jahren hat die Geschäftsleitung zudem zahlreiche Neuklassifizierungen vorgenommen, die für die betroffenen Kolleg:innen erhebliche Einkommenseinbußen – mehrere hundert Franken pro Monat – mit sich brachten. 

Kollektive Verbindungen schaffen

Ich denke jedoch, dass ein geduldiger gewerkschaftlicher Aufbauprozess möglich ist, wenn wir anfangen, uns zu ärgern. Aber das würde echte Gewerkschaftsarbeit erfordern, über einen längeren Zeitraum, um die Mitarbeiter:innen zu vernetzen, zu diskutieren und dann zu organisieren.”


Übersetzung durch die Redaktion. Titelbild: Das Zustellfahrzeug DXP im Einsatz. Quelle: post.ch

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