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Fussball: Organisierter Support unter staatlichem Beschuss

Organisierter Support im Fussball steht unter staatlichem Beaschuss

Häufig wird beim Gespräch über das politische Denken von Fussballfans lediglich das Schlagwort ACAB (All Cops Are Bastards) in den Raum geworfen – und das war’s. Viele betrachten Fussballfans als eine Gruppe betrunkener Männer, die gerne herumhängen, pöbeln und Feuerwerke zünden. Doch die meisten unterschätzen das schlummernde revolutionäre Potenzial der Fussballfans, und das ist naiv. Der bürgerliche Staat tut es nämlich nicht. Aber was hat es mit dieser These auf sich?

von Charles-Mathieu Sérou (BFS Zürich)

Der Staat stört sich an unserer Kurve

Im September 2023 haben sich die Ultras Frankfurt an die Öffentlichkeit gewandt: «Der Staat stört sich an unserer Kurve, daran, wie wir leben. Daran, dass wir ein Kollektiv darstellen, das weitaus solidarischer agiert, als man es in unserer Gesellschaft gewohnt ist. Dass wir uns nicht den Mund verbieten lassen. Und genau das wird auch weiterhin nicht passieren.» Sie bezogen sich dabei auf die neuen Sicherheitsmassnahmen von Feuerwehr und Polizei, die faktisch zu erheblichen Einschränkungen für die legendären Choreos führten.

Diese Analyse fasst gut zusammen, warum gegen aktive Fan-Szenen im Fussball so rigoros vorgegangen wird. Der offizielle Vorwand dafür, dass man Fans unter Beschuss nimmt, ist unter anderem Gewaltprävention oder Pyrotechnik. Der Hauptgrund ist, dass Menschen, die sich selbstorganisiert ausserhalb des Gewinnstrebens bewegen, als Bedrohung für das System angesehen werden.

Fussball ist kein Konzert

Wenn sich eine Gruppe Menschen zusammen organisiert, um einen Verein zu unterstützen, spricht man von organisiertem Support. Betrachtet man den organisierten Support in den Stadien, zeigt sich ein deutlicher Unterschied zum Rest des Publikums. Der organisierte Support ist nicht einfach nur ein:e Konsument:in, sondern versteht sich als aktiver Teil des Geschehens. Oft wird in linken Kreisen zum Fussball gehen mit dem Besuch eines Konzerts verglichen. Doch zum Fussball gehen ist mehr als Kultur, Spass und Unterhaltung. In Deutschland wird sogar häufig von «Fussballgehen» gesprochen, was einfach heisst an ein Fussballspiel zu gehen.

Wer so denkt, versteht den organisierten Support nicht. Man ist nicht einfach nur ein Teil einer Masse wie bei einem Konzert und lässt sich von dem, was auf der Bühne passiert, berauschen. Stattdessen gestaltet man aktiv das Bild im Stadion mit – durch aufwendige Choreografien, Feuerwerkeinsätze und lautes Singen von Liedern. Dies geschieht, ohne dass dabei im kapitalistischen Sinne ein Mehrwert geschaffen wird. Dies über Jahre hinweg bei jedem Spiel aufrechtzuerhalten, erfordert viel Arbeit und Zeit. Das funktioniert nur, wenn sich eine Gruppe solidarisch organisiert und viel Freizeit für das gemeinsame Wohl opfert.

Diese überdurchschnittliche Solidarität und das kollektive Denken, das in einer solchen Gruppe entsteht, werden in unserem bürgerlichen System nicht gelehrt. Dort wird seit der Schule gelehrt, dass wir uns gegenseitig konkurrenzieren, mit Noten vergleichen und immer besser als andere sein sollen. In unserer Gesellschaft gibt es wenig Raum für solches Denken. Und das kann Kräfte freisetzen, die im aktuellen System gefährlich werden können.

Romantisches Klassenbewusstsein

Es gibt zahlreiche Beispiele für diese Solidarität. Erlebt jemand in der Gruppe einen Schicksalsschlag und liegt im Krankenhaus, gibt es grosse Aktionen vor dem Krankenhaus oder Banner während der Spiele, auf denen beispielsweise steht: «Du bist bei uns und wir bei dir.» Man schaut aufeinander und unterstützt die Person. Wenn jemand seinen Job oder seine Wohnung verliert, wird das beim Bier nach dem Spiel zum Thema, und es wird kollektiv nach Lösungen gesucht. Auch wenn man die Person vielleicht in der Gruppe nicht gut kennt und nicht besonders eng mit ihr ist, hilft man, weil sie eben dazugehört. Dieses kollektive Denken kommt einem politischen Klassenbewusstsein sehr nahe. Es ist nicht auf eine Firma oder Branche beschränkt, sondern orientiert sich an den Vereinsfarben. Dies ist natürlich eine romantisierte Darstellung, und es ist klar, dass in der Realität nicht immer alles so perfekt läuft und es auch zwischenmenschliche Konflikte gibt.

Wenn dieses kollektive Denken nur im Stadion vorkäme, hätte der bürgerliche Staat wahrscheinlich weniger Interesse daran, es zu kontrollieren. Der bürgerliche Staat versucht, das kollektive Denken mit starken Repressionen zu unterbinden. Doch der bürgerliche Staat erkennt bewusst oder unbewusst, dass dieses Denken auch auf soziale Bewegungen überschwappen kann. Corona war ein gutes Beispiel dafür, wie organisierte Supporter in verschiedenen Städten Aktionen durchführten, wie z.B. Essensausgaben, Transaktionen vor Krankenhäusern oder Spendenaktionen. Bei den Gezi-Protesten in der Türkei oder auch bei den grossen Sparmassnahmen-Protesten in Griechenland mischten sich organisierte Fussballfans ein und traten organisiert auf. Sie spielten eine tragende Rolle in den Protesten.

Nicht alles ist positiv

Dass dies auch negative Formen annehmen kann, zeigt sich im aktuellen Ukraine-Krieg, wo auch organisierte Fussballfans mit faschistischen Gedanken an der Front agieren. Auch im Balkankrieg wurden Fussballfans mit nationalistischen Überzeugungen gezielt an die Front geschickt. Ihr kollektives Denken war auch dort äusserst nützlich. Konkret ging es um Fans von Roter Stern Belgrad und Dynamo Zagreb. Wenn es heute zu einer Spielbegegnung zwischen ihnen käme, gäbe es bei der Durchführung wahrscheinlich erhebliche Probleme. Diese Fans standen sich damals im Krieg gegenüber.

Es kann aber auch zu problematischem Verhalten kommen, ohne dass gleich Krieg herrscht. So veranstalten die Leute von der Drughi (Hauptfangruppierung von Juventus Turin) mit der lokalen Neo-Nazi-Bewegung sogenannte «Säuberungsmärsche» gegen Asylsuchende. Man kann sich vorstellen, was dabei auf der Strasse passiert. Der FC Turin ist vermutlich die Gegenantwort dazu, und seine Fans sind eher links geprägt.

Die ausführende Kraft: Polizei

Dass der bürgerliche Staat ein Interesse daran hat, die organisierten Fussballfans möglichst klein zu halten, sollte jetzt klar sein. Dass die ausführende Kraft des Staates, die Polizei, dies unterstützt, macht ebenfalls Sinn. Dazu kommt noch ein weiterer Faktor: Die Polizei selbst hat oft ein Interesse daran, dass es «knallt».

Wer tiefer in die Analyse eintauchen möchte, kann sich die neue Folge «Klassenkenntnis Sport» zur Repression anhören. Darin erläutert Raphael Molter die Entstehung der Polizei seit dem Feudalismus.

Ausserdem findet am 19. und 20. Januar 2024 eine neue Ausgabe des Anderen Davos im Volkshaus Zürich statt. Dort findet auch ein Workshop zum Thema «Fussballfans als revolutionäre Subjekte?» statt, mit Lara Schauland (Politikwissenschaftlerin und Fussballfan aus Berlin-Köpenick) und Raphael Molter (Politikwissenschaftler, Fussballfan aus Berlin-Köpenick und Autor von «Frieden den Kurven. Krieg den Verbänden»).

Samstag, 20. Januar 2024, 14:30-17:00 Uhr

Fussballfans als revolutionäre Subjekte?

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