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Schweizer Wirtschaftsverbände: Offen sozialdarwinistisch

Die Schweizer Wirtschaftsverbände drängen darauf, dass der partielle Lockdown aufgehoben wird, weil sie bis zu 30’000 Neuansteckungen pro Tag für tolerierbar halten. Das ist ein Skandal – entspricht aber der politischen Strategie, die die Schweiz seit Beginn der Pandemie verfolgte.

von Eva L. Blum und Philipp Gebhardt (BFS Zürich)

Unmenschliche Pandemiepolitik in der Schweiz

Die Pandemiepolitik der Schweiz orientiert sich seit Frühjahr 2020 einzig an zwei Zielen: 1. Die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen hat oberste Priorität, sie sollen weiterhin Profite machen können. Während die Wirtschaft in vielen Branchen ungehindert weiter läuft – und die dort arbeitenden Menschen einem hohen Risiko ausgesetzt sind, schwer zu erkranken –, wird das gesellschaftliche, kulturelle und private Leben eingeschränkt; zulasten aller Marginalisierten und zulasten der Frauen. 2. Weitergehende Massnahmen werden, wenn überhaupt, nur soweit ergriffen, dass das Gesundheitssystem nicht überlastet werden soll. Doch was heisst nicht überlastet!? Dank des neoliberalen Spardiktats der letzten Jahrzehnte ist das Gesundheitswesen bereits seit langem am Anschlag. Alle Warnrufe des Spitalpersonals verhallen ungehört. Das Ergebnis: In der Schweiz starben seit Beginn der Pandemie nicht nur im europäischen, sondern auch im weltweiten Vergleich überdurchschnittlich viele Menschen an Covid-19.

Nichts dazu gelernt und alles wieder vergessen

Spätestens seit April 2021 baut sich auch in der Schweiz die Dritte Welle auf. Die Zahlen steigen, vor allem die «britische Mutation» verbreitet sich rasch. Ungeachtet dieser brisanten Lage wird der Ton der Wirtschaftsliberalen aber immer schärfer. Schon die geringsten Einschränkungen dürfen nicht sein, die Kapitalverwertung muss weitergehen und deshalb wird jetzt sozialdarwinistischer Klartext gesprochen. Erst erklärt Arbeitgeberverbandspräsident Valentin Vogt in einem Interview am 9. April: Wenn die Risikopatient:innen geimpft seien, könnte die Schweiz bis zu 30’000 (!) Neuansteckungen pro Tag verkraften. Diese Einschätzung basiert auf einem Papier, das schon im Februar zusammen mit dem neoliberalen Unternehmerverband economiesuisse verfasst wurde. Und am 12. April doppelt der nationalkonservative Schweizerische Gewerbeverband (SGV) nach und fordert eine sofortige Beendigung des Lockdowns. Generell sei die Pandemiepolitik zu einseitig auf gesundheitspolitische Überlegungen ausgerichtet, kritisiert SGV-Direktor Hans-Ulrich Bigler. Zudem sei der Einfluss der wissenschaftlichen Covid-19-Taskforce nach wie vor zu gross.

Kapital gegen Arbeit und Armut

Dass die Taskforce, als eine der wenigen besonnenen Stimmen in dieser Krise, immer wieder versucht, auf die nüchternen Tatsachen hinzuweisen, geht im aggressiven Lärm der Kapitalvertreter:innen unter. Dabei gehören schon jetzt etwa 50% der Corona-Patent:innen, die ins Spital eingeliefert werden, keiner Risikogruppe an. Die nun so vehement geforderte «Durchseuchungsstrategie» nimmt also nicht nur bewusst noch mehr Tote, auch unter den Jüngeren, in Kauf. Sie wird auch dazu führen, dass noch mehr Menschen an den teilweise gravierenden Langzeitfolgen von Long-Covid zu leiden haben werden. Nicht zuletzt wird damit die neoliberale Agenda der Schweizer Politik forciert, die von Anfang an klargemacht hat, dass die Pandemiebekämpfung vor allem eine Sache der Eigenverantwortung zu sein habe. Damit aber wird es – erneut und nun noch einmal verschärft – Lohnabhängige und marginalisierte Gruppen treffen, da diese ein überdurchschnittlich hohes Risiko tragen, an Covid-19 zu erkranken.

ZeroCovid bleibt die einzig richtige Strategie

Auf den Sommer zu hoffen, ist eine Illusion. Denn die nun geforderten hohen «Durchseuchungsraten» werden auch hier die Entwicklung weiterer Mutationen befördern. Wie Wissenschaftler:innen der deutschen Max-Planck-Gesellschaft Ende März in einer Studie nachgewiesen haben, wirken steigende Ansteckungen durch verfrühte Öffnungen wie Trainingslager für Viren, solange erst ein kleiner Teil der Bevölkerung geimpft ist. Die einzig vernünftige Lösung ist deshalb ein sofortiger, solidarischer Shutdown, wie ihn die Kampagne ZeroCovid fordert. Nur wenn die Ansteckungszahlen massiv runtergehen und jede einzelne Neuinfektion wieder nachverfolgt werden kann, werden wir die Situation in den Griff bekommen. Die Befürchtung vieler Linken, dass eine solche Strategie in den autoritären Staat münden würde, ist nicht haltbar. Das Gegenteil ist richtig. Nicht ZeroCovid, sondern das Hin-und-Her von partiellen Lockdowns und Öffnungen haben dazu geführt, dass mittlerweile auch in Deutschland regionale Ausgangssperren eingeführt werden.[1]

Die langfristige Strategie von ZeroCovid muss JETZT mit einer mehrwöchigen Pause der Wirtschaft beginnen. Eine bezahlte Arbeitspause – mit Ausgleichsurlaub und Sofortzahlungen für alle, die in lebensnotwendigen Bereichen arbeiten – ist das Mindeste, was nun angebracht ist!


[1] Mit dem Hin- und Her zwischen halbherziger Schliessung und unverantwortlicher Öffnung haben es die Regierungen in Deutschland und der Schweiz schliesslich unterlassen, eine längerfristige Eindämmung der Infektion mit einer bezahlten Arbeitspause zu verbinden. Dadurch sind effektiv viele Lohnabhängige sowie Klein- und Mittelunternehmen existentiell bedroht worden, weil Anstellungen gefährdet sind oder aber nicht mehr ausreichend Umsatz gemacht wird, und zwar ohne, dass dadurch ein Erfolg im Kampf gegen den Virus zu verzeichnen wäre. Der Bund hat so (unfreiwillig) ein materielles Interesse für eine vorschnelle Öffnung geschaffen und den falschen Eindruck erweckt, als sei die Öffnung der richtige Weg. Ganz nach dem Prinzip, dass das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt, hat der Bund mittlerweile viele Lohnarbeiter:innen in eine Lage manövriert, in der sich die Frage nach dem Lockdown gar nicht mehr stellen lässt, ohne die eigene Existenzgrundlage gefährdet zu sehen. Tatsächlich hat uns die fahrlässige Öffnung erst in diese Lage gebracht.

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1 Kommentar

  1. Pingback:Pandemiepolitik in der Schweiz: Nichts gelernt und alles wieder vergessen

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